Hier möchte ich das
Wort „Täuschung“ im Sinne einer falschen Wahrnehmung oder Illusion verwenden,
also vorerst nicht als bewusster Betrug oder Irreführung. Hierzu gleich zu
Beginn meine These: Jede Wahrheit braucht ein Referenzsystem, sie muss also auf
etwas bezogen sein, eine Art Nullpunkt. Da jedoch dieses Referenzsystem
beliebig gewählt werden kann, gibt es keine feste und eineindeutige Wahrheit,
sondern immer nur eine relative. Und eine relative Wahrheit ist streng genommen
keine mehr. In diesem Sinne ist alles auch Täuschung. Also: Alles ist wahr aber
alles ist auch Täuschung…
Aber beginnen wir von
Vorne:
Wir lassen uns gerne
täuschen. Wir geben dies zwar nicht gerne zu, doch ist es so. Wieso sonst
würden noch so viele Menschen den deutschen Verteidigungsminister Guttenberg
nach wie vor gut finden? Wieso funktionieren Placebos? Wieso funktionieren
Methoden wie neurolinguistisches Programmieren? Wieso glauben wir überhaupt,
was andere Leute uns sagen oder weismachen wollen? Wieso glauben wir, dass wir
in einem guten, freien, demokratischen Land wohnen? Wieso glauben wir Predigern?
Wir glauben es gerne, weil wir uns so sehr nach Wahrheit sehnen, nach etwas,
woran wir glauben können, was uns Stabilität und Sicherheit gibt. Wir glauben
diese Dinge wirklich, die anderen, welche es anders sehen, haben unrecht, sie
sehen es falsch.
Sobald wir jedoch einen
Schritt weiter denken, dann wird es schnell komplizierter. Denn wir wissen, wie
schwierig es ist, die Wahrheit zu erkennen oder mitzuteilen. Jene, die uns die
Welt erklären, haben ihre Glaubenssysteme, sind natürlich auch verwundet, haben
also auch ihre Themen und das, was sie sagen ist davon gefärbt. Und auch wir haben
unsere Glaubenssysteme und sind verwundet und filtrieren entsprechend die
Aussagen, die wir hören. Kurz, wir sind wahrscheinlich der Wahrheit näher, wenn
wir davon ausgehen, dass alles Täuschung ist, statt dass alles wahr ist. Wir
sind näher an der Wahrheit, wenn wir alles, wirklich alles, in Frage stellen. Alles
wäre nach dieser Aussage eine Täuschung. Wäre nun die einzige Wahrheit, dass
alles eine Täuschung ist?
Wagen wir einmal das Experiment, und gehen davon aus, dass alles, was wir wahrnehmen, eine Täuschung ist: jede Theorie, jeder Gedanke, jede Aussage, jedes Gefühl…
Aber nein – ich höre
den Widerstand – sind nicht zum Beispiel Basisgesetzte der Mathematik oder
Physik einfach wahr? Hat nicht ein Dreieck immer die Winkelsumme 180°? Gibt es
nicht Grundgesetzte, die einfach immer stimmen?
Aber schauen wir diese
Gesetze genauer an. Jedes davon braucht ein Referenzsystem, damit es stimmt.
Das heisst, es braucht eine Basisannahme, und nur wenn diese gilt, dann ist die
Aussage wahr. Das Dreieck muss z.B. in einer Ebene liegen, damit es tatsächlich
180° Winkelsumme hat, sonst stimmt die Aussage nicht. Auch muss zuerst
definiert werden, wieviel ein Grad überhaupt umfasst.
Was, also, kann man über
Täuschung und Wahrheit noch sagen. Hier meine Beobachtungen:
Jede Wahrheit braucht ein Referenzsystem: Für jede Wahrheit müssen zuerst die Rahmenbedingungen oder eine Referenz definiert werden. Nur innerhalb dieser Rahmenbedingungen ist etwas wahr oder nicht. Beispiele von solchen Referenzsystemen sind die Wissenschaft, der Kapitalismus, Religionen, Glaubenssätze und Ähnliches.
Nichts geht ohne Referenzsystem:
So problematisch Referenzsysteme auch sind, ohne geht es nicht. Sie stellen
eine Bedingung an unser Leben dar. Das heisst, wir müssen uns in Referenzsysteme
begeben, damit wir existieren können. Es ist zwar gleich in welches, aber es
braucht eines. Referenzsysteme über unsere Existenz wie „Biologie“, „Gott macht
alles“, „Ich bin nur eine Welle“ usw. funktionieren in sich alle. Aber wenn ich
sage, es hat gar kein Referenzsystem, dann existiere ich nicht mehr. Ein
Zustand ohne Referenzsystem kann ich nicht einmal beschreiben.
Jedes Referenzsystem kann beliebig definiert werden.
Jedes dieser Referenzsysteme ist aber beliebig. Ich muss nicht an die
Wissenschaft, die Biologie, die Bibel oder den Kapitalismus glauben. Es sind
immer andere Referenzsysteme möglich, ich kann immer von einem zum anderen
wechseln; von links nach rechts, vom Mensch als Mittelpunkt zur Erde als
Mittelpunkt, von einer Zeit, die vor Milliarden von Jahren ihren Nullpunkt hatte
zu einer, die jetzt ihren Anfang hat, usw.
Jedes Referenzsystem hat einen Nullpunkt:
Jedes dieser Referenzsysteme muss sich
an einem Nullpunkt orientieren, ganz ähnlich zu einem Koordinatensystem in der
Mathematik. Z.B. ist einer der Nullpunkte der Wissenschaft, dass die Zeit einen
Anfang hat (z.B. ist das Universum zum Zeitpunkt 0 entstanden – viele sagen aus
nichts). Oder für gläubige Christen ist der Nullpunkt Gott, aus ihm entsteht
alles.
Also. Jedes System ist
falsch, jedoch müssen wir uns diesen Täuschungen unterwerfen, damit wir
überhaupt existieren können, weil wir nur sein können, wenn zumindest für eine
gewisse Zeit Gesetzmässigkeiten herrschen.
Liegt dieses
Bild wirklich verkehrt? Was ist hier das Referenzsystem? (Ich stehe mit den
Füssen auf der Erde, halte den Fotoapparat gerade und fotografiere die
Spiegelung im Wasser.) Foto: Jakob
Als Zweites ist es
natürlich wichtig, die eigenen Referenzsysteme zu kennen. Selbstverständlich
müssen wir dabei anerkennen, dass dieses genauso beliebig sind wie jedes
andere. Wir müssen darauf achten, dass wir nichts als absolut wahr bezeichnen.
Also: Es gibt keine
Wahrheit, höchstens dann, wenn man ein konkretes Referenzsystem definiert. Und nur
innerhalb dieses gibt es logische, oder wahre Schlüsse.
Und was ist nun mit der
böswilligen Täuschung, der bewussten Irreführung, das worauf ich zu Beginn
genau nicht eingehen wollte? In meinen Augen passt das in das gleiche Schema –
eigentlich ist die bewusste Irreführung einfach ein anders Referenzsystem. Für
diejenigen Menschen, die das tun, ist es wahr, diese Methoden gehören zu ihrem
Weltbild.
Zum Schluss nochmals die
Erkenntnis: Nichts ist wahr, alles ist wahr, nichts ist Täuschung, alles ist
Täuschung.