Freitag, 1. April 2011

Täuschung


Hier möchte ich das Wort „Täuschung“ im Sinne einer falschen Wahrnehmung oder Illusion verwenden, also vorerst nicht als bewusster Betrug oder Irreführung. Hierzu gleich zu Beginn meine These: Jede Wahrheit braucht ein Referenzsystem, sie muss also auf etwas bezogen sein, eine Art Nullpunkt. Da jedoch dieses Referenzsystem beliebig gewählt werden kann, gibt es keine feste und eineindeutige Wahrheit, sondern immer nur eine relative. Und eine relative Wahrheit ist streng genommen keine mehr. In diesem Sinne ist alles auch Täuschung. Also: Alles ist wahr aber alles ist auch Täuschung…

Aber beginnen wir von Vorne:

Wir lassen uns gerne täuschen. Wir geben dies zwar nicht gerne zu, doch ist es so. Wieso sonst würden noch so viele Menschen den deutschen Verteidigungsminister Guttenberg nach wie vor gut finden? Wieso funktionieren Placebos? Wieso funktionieren Methoden wie neurolinguistisches Programmieren? Wieso glauben wir überhaupt, was andere Leute uns sagen oder weismachen wollen? Wieso glauben wir, dass wir in einem guten, freien, demokratischen Land wohnen? Wieso glauben wir Predigern? Wir glauben es gerne, weil wir uns so sehr nach Wahrheit sehnen, nach etwas, woran wir glauben können, was uns Stabilität und Sicherheit gibt. Wir glauben diese Dinge wirklich, die anderen, welche es anders sehen, haben unrecht, sie sehen es falsch.

Sobald wir jedoch einen Schritt weiter denken, dann wird es schnell komplizierter. Denn wir wissen, wie schwierig es ist, die Wahrheit zu erkennen oder mitzuteilen. Jene, die uns die Welt erklären, haben ihre Glaubenssysteme, sind natürlich auch verwundet, haben also auch ihre Themen und das, was sie sagen ist davon gefärbt. Und auch wir haben unsere Glaubenssysteme und sind verwundet und filtrieren entsprechend die Aussagen, die wir hören. Kurz, wir sind wahrscheinlich der Wahrheit näher, wenn wir davon ausgehen, dass alles Täuschung ist, statt dass alles wahr ist. Wir sind näher an der Wahrheit, wenn wir alles, wirklich alles, in Frage stellen. Alles wäre nach dieser Aussage eine Täuschung. Wäre nun die einzige Wahrheit, dass alles eine Täuschung ist?

Wagen wir einmal das Experiment, und gehen davon aus, dass alles, was wir wahrnehmen, eine Täuschung ist: jede Theorie, jeder Gedanke, jede Aussage, jedes Gefühl…


 

 
Sind diese Linien gerade und parallel oder nicht? Mit einem Lineal kann dies überprüft werden.
 
Es wird ein weisses Dreieck wahrgenommen, obwohl keines gezeichnet ist. Quelle für beide Bilder: www.123opticalillusions.com
 

Aber nein – ich höre den Widerstand – sind nicht zum Beispiel Basisgesetzte der Mathematik oder Physik einfach wahr? Hat nicht ein Dreieck immer die Winkelsumme 180°? Gibt es nicht Grundgesetzte, die einfach immer stimmen?

Aber schauen wir diese Gesetze genauer an. Jedes davon braucht ein Referenzsystem, damit es stimmt. Das heisst, es braucht eine Basisannahme, und nur wenn diese gilt, dann ist die Aussage wahr. Das Dreieck muss z.B. in einer Ebene liegen, damit es tatsächlich 180° Winkelsumme hat, sonst stimmt die Aussage nicht. Auch muss zuerst definiert werden, wieviel ein Grad überhaupt umfasst.

Was, also, kann man über Täuschung und Wahrheit noch sagen. Hier meine Beobachtungen:

Jede Wahrheit braucht ein Referenzsystem: Für jede Wahrheit müssen zuerst die Rahmenbedingungen oder eine Referenz definiert werden. Nur innerhalb dieser Rahmenbedingungen ist etwas wahr oder nicht. Beispiele von solchen Referenzsystemen sind die Wissenschaft, der Kapitalismus, Religionen, Glaubenssätze und Ähnliches.

Nichts geht ohne Referenzsystem: So problematisch Referenzsysteme auch sind, ohne geht es nicht. Sie stellen eine Bedingung an unser Leben dar. Das heisst, wir müssen uns in Referenzsysteme begeben, damit wir existieren können. Es ist zwar gleich in welches, aber es braucht eines. Referenzsysteme über unsere Existenz wie „Biologie“, „Gott macht alles“, „Ich bin nur eine Welle“ usw. funktionieren in sich alle. Aber wenn ich sage, es hat gar kein Referenzsystem, dann existiere ich nicht mehr. Ein Zustand ohne Referenzsystem kann ich nicht einmal beschreiben.

Jedes Referenzsystem kann beliebig definiert werden. Jedes dieser Referenzsysteme ist aber beliebig. Ich muss nicht an die Wissenschaft, die Biologie, die Bibel oder den Kapitalismus glauben. Es sind immer andere Referenzsysteme möglich, ich kann immer von einem zum anderen wechseln; von links nach rechts, vom Mensch als Mittelpunkt zur Erde als Mittelpunkt, von einer Zeit, die vor Milliarden von Jahren ihren Nullpunkt hatte zu einer, die jetzt ihren Anfang hat, usw.

Jedes Referenzsystem hat einen Nullpunkt:  Jedes dieser Referenzsysteme muss sich an einem Nullpunkt orientieren, ganz ähnlich zu einem Koordinatensystem in der Mathematik. Z.B. ist einer der Nullpunkte der Wissenschaft, dass die Zeit einen Anfang hat (z.B. ist das Universum zum Zeitpunkt 0 entstanden – viele sagen aus nichts). Oder für gläubige Christen ist der Nullpunkt Gott, aus ihm entsteht alles.

Also. Jedes System ist falsch, jedoch müssen wir uns diesen Täuschungen unterwerfen, damit wir überhaupt existieren können, weil wir nur sein können, wenn zumindest für eine gewisse Zeit Gesetzmässigkeiten herrschen.

 
 
Liegt dieses Bild wirklich verkehrt? Was ist hier das Referenzsystem? (Ich stehe mit den Füssen auf der Erde, halte den Fotoapparat gerade und fotografiere die Spiegelung im Wasser.) Foto: Jakob
 

 Und was sind nun die praktischen Konsequenzen? Immer wenn wir eine Aussage hören, müssen wir darauf achten, welches Referenzsystem dahinter steckt. Wir müssen die Voraussetzungen kennen, unter denen die Aussage gemacht wurde. Statt, dass wir also Aussagen dahingehend prüfen, ob sie nun eine Täuschung sind oder nicht, suchen wir nach den darunter liegenden Referenzsystemen. D.h. wir diskutieren mit anderen nicht mehr über was stimmt und was nicht, sondern höchstens über Referenzsysteme. Und da wir nun wissen, dass diese beliebig definiert werden können, erübrigen sich Streitdiskussionen! Die Erkenntnis, dass alles Täuschung ist, beziehungsweise jede Wahrheit ein Referenzsystem braucht, macht uns auf diese Art sehr frei.

Als Zweites ist es natürlich wichtig, die eigenen Referenzsysteme zu kennen. Selbstverständlich müssen wir dabei anerkennen, dass dieses genauso beliebig sind wie jedes andere. Wir müssen darauf achten, dass wir nichts als absolut wahr bezeichnen.

Also: Es gibt keine Wahrheit, höchstens dann, wenn man ein konkretes Referenzsystem definiert. Und nur innerhalb dieses gibt es logische, oder wahre Schlüsse.

Und was ist nun mit der böswilligen Täuschung, der bewussten Irreführung, das worauf ich zu Beginn genau nicht eingehen wollte? In meinen Augen passt das in das gleiche Schema – eigentlich ist die bewusste Irreführung einfach ein anders Referenzsystem. Für diejenigen Menschen, die das tun, ist es wahr, diese Methoden gehören zu ihrem Weltbild.

Zum Schluss nochmals die Erkenntnis: Nichts ist wahr, alles ist wahr, nichts ist Täuschung, alles ist Täuschung.