Montag, 1. August 2011

Sterben


Mitten im Sommer ein Forum zum Thema Sterben? Der erste August, Lugnasad bei den Kelten, war ein Feiertag, welcher der Ernte, der Vollendung also, gewidmet war. Und Vollendung hat immer auch mit Sterben zu tun. Ist etwas abgeschlossen, dann stirbt es…

Aber dies ist nicht der einzige Grund, wieso ich Sterben thematisiere. In der letzten Zeit starben nahestehende Menschen von wiederum mir nahestehenden Personen. Gewissermassen waren diese Todesfälle also eine Person von mir verschoben – dennoch beschäftigten sie mich sehr. Meine Gedanken und Beobachtungen sind viele, aber diese möchte ich in dieser Ausgabe nicht systematisch aufzählen (vielleicht einmal in einer späteren Nummer), sondern im Folgenden verbinde ich mich mit dem Sterben als solches und beschreibe intuitiv die Bilder und Worte, welche dabei spontan aufkommen. Ob so neue Erkenntnisse aufkommen?

Und so beginnt es:

Ich liege auf einem Scheiterhaufen und umarme mich selbst als Säugling; Gleichzeitig bin ich ein Säugling und halte mich als alter Mann. Wir umarmen uns beide gegenseitig und mir ist klar: Ich bin beides. Wir gehören zusammen, wir sind eins. Von uns aus strahlt Licht in alle Richtungen, Wellen der Energie, wohl sind das Wellen der Seele. Diese Wellen treffen andere Wellen, welche von Paarungen von Säuglingen und alten Menschen stammen. Es ist ein Meer von Wellen, welche aufeinandertreffen und zeigen, wie alles miteinander verbunden ist. Es ist ein schönes Gefühl von Sein.

Was ist Sterben? Ich sehe einen Rand, eine Abgrenzung, es ist der Abschluss, es ist der alte Mann und es ist der Säugling, beide gleichzeitig. Dort ist der Tod - dort ist die Geburt. Beide bedeuten das Gleiche. Zwischen diesen strahlt das Leben aus. In alle Richtungen. Weit über die Geburt und weit über Tod aus. Geburt und Tod sind wie zwei Pole, zwischen denen Energie entsteht, ein Feld gewissermassen, welches von diesen beiden Polen aufgebaut wird. Es ist wie eine Batterie mit einem Plus- und einem Minuspol und dank diesen Polen entsteht Energie. Der Tod ist der eine Pol, die Geburt der andere Pol. Welcher welcher ist spielt kein Rolle. Geburt und Tod sind gleichwertig. Beide benötigt es.

 





Ein Tag findet zwischen Sonnenauf- und -untergang statt. So wie ein Leben. Fotos: Jakob

Und nach dem Tod? Es gibt kein Danach im üblichen Sinn, hingegen ein Ausserhalb. Es gibt ein Bereich Ausserhalb dem Spannungsfeld zwischen Geburt und Tod, dort sind die beiden nicht, ihre Auswirkungen hingegen schon. So gibt es uns nicht vor unserer Geburt und nicht nach unserem Tod, die Energie strahlt aber in alle Zeiten aus.

Was heisst das? Wie gehen wir damit um? Du lebst jetzt. Dein Leben jetzt strahlt aus - in die Zukunft und in die Vergangenheit. Lebe es jetzt, lebe es so, wie es der Absicht des Universums entspricht. So strahlt das Leben aus.  Aber wisse, dieses konkrete Leben ist einzigartig, es gibt es nur einmal. Dieses konkrete Zusammenkommen von einer konkreten Geburt und einem konkreten Tod besteht wirklich nur ein einziges Mal. Werde dessen bewusst, und strahle immer dich aus. Dafür musst du dein Leben leben und insbesondere deinen Tod sterben.

Und mein Bewusstsein, meine Seele? Das Bewusstsein wird durch die Geburt und den Tod gebildet und strahlt von dort auch in andere Zeiten. Aber der Ursprung ist immer diese Zeitspanne zwischen beiden, deshalb ist auch genau dieses Leben so wichtig.

Was heisst das nun? Zwei Dinge: Lebe genau dein Leben und sterbe genau deinen Tod, damit deine Energie, dein Bewusstsein, deine Seele ausgesendet wird. Vergiss nicht, die meisten Menschen sterben nicht ihren Tod, sie sterben einen anderen, sie werden unterwegs von anderen gewissermassen parasitischen Kräften gepackt. Dabei werden sie von ihrem Weg und somit auch von ihrem eigenen Tod abgelenkt. Dem Leben fehlt dadurch der eine wichtige Pol, nicht anders als wenn man bei einer Batterie der eine Pol verschieben oder verändern würde. Die Energie der ganzen Batterie wird dadurch verändert.

Der eigene Tod? Eine sehr wichtige Angelegenheit. Entsprechend sind parasitischen Kräfte beim Sterben und unmittelbar davor und danach aktiv. Wie kommen sie daher? In Form von Verwandten, die meist aus eigennützigen Gründen das Leben des Sterbenden verlängern wollen. In Form der Medizin, welche alle Arten von Therapien und Medikamente anwenden und es dem Sterbenden unmöglich machen, den eigenen Tod überhaupt zu spüren oder zu erkennen. Oder zum Beispiel in Form der Kirche, welche bei Beerdigungen oft ihr Möglichstes tut, um in den ganzen Sterbeprozess einzugreifen und sich selbst dann prominent an diesen Pol stellt.

Und Achtung, auch der andere Pol wird von den gleichen Kräften beeinflusst, so dass viele Menschen nicht ihre eigene Geburt erhalten. Auch hier funkt die Medizin dazwischen, auch hier mischen die Kirchen mit, auch hier wird der Pol parasitiert.

Natürlich soll dies nicht heissen, dass wir keine Medizin zu Rate holen, dass wir keine Beerdigungen mehr machen, dass die Verwandten sich nicht mehr um den Sterbenden kümmern sollen. Nein, es soll heissen, dass die Beteiligten ihr Möglichstes tun, um herauszufinden, was wohl der eigene Tod des Sterbenden sein könnte. Er wird es auf irgendeine Art sagen, wozu wir aber oft sehr gut hinhören müssen. Als Angehörige müssen wir deshalb die Institutionen vorerst auf Distanz halten: Wir geben ihnen nur dann Aufträge, falls dies mit dem eigenen Tod des Sterbenden zu tun hat, aber wir lassen den Prozess nicht von der Medizin und nicht von der Kirche dirigieren.

Damit dies gelingt, gibt es wohl kaum etwas Wichtigeres, als die beteiligten Menschen in ihren eigenen Gefühlen zu unterstützen. Die Trauer, der Schmerz, darf, soll da sein. Wir lassen unsere Gefühle zu und erlauben den anderen ihre Gefühle. Denn es ist nicht nur für uns äusserst wichtig, nein, in diesem Schmerz, spüren wir wohl echter, was der eigene Tod des anderen sein könnte.

Und noch wichtiger: Wir setzen alles daran, dass wir unseren eigenen Tod sterben können. Dazu anerkennen wir, dass es ihn gibt und indem wir im Leben unseren Weg gehen, mit dem Herzen entscheiden, uns entwickeln, also all das machen, wovon hier immer die Rede ist, dann gelangen wir auch ganz in die Nähe unseres eigenen Todes und so wird es etwas leichter, ihn zu erkennen.

Damit wir unseren eigenen Tod sterben können, müssen wir versuchen unser Potential, unsere Kraft, unsere Entscheidungen immer bei uns selbst zu behalten. So angenehm es sein kann, müssen wir darauf achten, so wenig wie möglich zu delegieren. Am wichtigsten ist dabei, dass wir möglichst lange selbst entscheiden. Es mag verlockend sein, wenn die Angehörigen sich um unsere Steuern, Versicherungen, Wohnungseinrichtungen etc. kümmern, aber es hat einen Preis. Die anderen beginnen zu entscheiden und diese kennen unseren Weg und unseren Tod nicht. Entsprechend müssen wir andererseits vorsichtig sein, wenn wir unseren altengewordenen Angehörigen Entscheidungen abnehmen, denn dies kann sie von ihrem eigenen Tod abbringen. Vielleicht wollen wir in bester Absicht ihnen noch ein angenehmes Leben ermöglichen, rauben ihnen aber gleichzeitig die Möglichkeit ihren ureigenen Weg zu gehen. Ein angenehmes Leben führt selten zum eigenen Tod, nein, dieser wird am ehesten erkannt, wenn der Sterbende bis zum Schluss möglichst das Zepter in der eigenen Hand hält, so schwer dieses zwischendurch auch sein mag. Helfen ist nicht verboten, im Gegenteil, aber es ist immer Hilfe zur möglichst grossen Selbstständigkeit.

Und gleichzeitig geht es immer auch um Geburten. Die eigene Geburt ist genauso wichtig wie der eigene Tod. Nur sind wir schon da, und denken, wir können auf den ersten Blick unsere Geburt nicht mehr beeinflussen. Dies stimmt aber nur bedingt, denn wenn wir die Umstände unserer Geburt erfahren, die Abweichungen von unserer eigenen Geburt erkennen und die Gefühle und die Verzweiflung (sollten Abweichungen da sein) zulassen und heilen, korrigiert dies unsere Geburt – sie wird auf diese Weise mehr unsere eigene. Wir kommen dann unserer eigenen Geburt näher und stärken so wiederum unser ganzes Leben.

Und genauso wie wir am Sterbeprozess anderer beteiligt sind, sind wir dies auch bei den Geburten von anderen Menschen. Unsere Aufgabe ist es also, unseren Kindern ihre eigenen Geburten zu ermöglichen.  Wie beim Sterbenden müssen wir beim Gebären ganz genau hinhören und erfühlen, was wohl die eigene Geburt unseres Kindes ist. Wann ist sie und wie soll sie ablaufen? Das heisst, wir müssen sorgfältig mit Eingriffen wie Einleiten  und Kaiserschnitten umgehen. Und genauso wie das Sterben nicht ein einziger Zeitpunkt ist, sondern ein Prozess darstellt, genauso müssen wir mit allen Geburtsprozessen vorsichtig umgehen und genau hinhören, bevor wir Institutionen an diesen Prozess heranlassen, wie zum Beispiel die Kirche mit der Taufe.

Was heisst dies alles zusammengefasst: Unsere Geburt und unser Tod sind sehr wichtig, denn sie bauen das Spannungsfeld auf, welches wir unser Leben nennen. Dazu müssen wir sehr darauf achten, dass wir und andere ihre eigene Geburt und ihren eigenen Tod erleben.