Die Regenwälder der Franche-Comté waren auch diesen April
feucht und kalt. Die Wasserfälle, welche meist aus Quellen in den Felsen
sprudelten, waren entsprechend beeindruckend und kraftvoll, die Schluchten
einsam und voller Farne und moosbehangenen Bäumen, und an den Felswänden hingen
dichte Nebelschwaden. Weil es kalt und regnerisch war, konnte man sich jedoch
nirgends hinsetzen. Auf den Wanderungen war ich also ständig am Gehen oder
schaute mir die Dinge stehend an. Schön, aber auf die Länge war dies auch
ermüdend. Ich sehnte mich nach einem Ort, wo ich mich in der Natur hinsetzen
und zur Ruhe kommen konnte. Sehnt man sich sowieso nicht immer nach Ruhe, nach
Ankommen, nach einem Ort, wo man nicht von der ständigen Aktivität gestört wird?
Die beiden letzten Tage zeigten mir symbolisch auf, was es mit dieser Ruhe auf
sich hat. Was war passiert?
Meine Wanderung am zweitletzten Tag führte zuerst zu
einer alten keltischen Quelle mit dem Namen Goda (auf keltisch „gutes Wasser“).
Offenbar hatten die Kelten und später auch die Römer dieses Wasser als heilend
empfunden. Standen heute Themen des Heilens an? Ich trank vom Wasser und fühlte
mich mit den Menschen von früher verbunden und kam in eine spezielle Stimmung –
wahrnehmend, nachdenklich und mit einem erhöhten Bewusstsein, so wie mir schien.
In dieser Stimmung gelangte ich zu den Grottes de Waroly, vier Höhlen, eine
neben der anderen, wobei die letzte eine Doppelhöhle ist, so dass es eigentlich
deren fünf sind. Man konnte in diese hineinklettern, sah schöne Formationen und
dies alles ohne Touristenführer. Das war perfekt: Mit diesem erhöhten
Bewusstsein konnte ich nun allein in diese Höhlen, das würde sicher gute
Erkenntnisse geben, fand ich. Nur fühlte ich mich vor der ersten Höhle eigenartig
schwach und hatte unerwartet Mühe, die wenigen Felsen hochzuklettern. Was war
los? Die Energie des Heilwassers war verschwunden. Ich ass etwas, aber auch das
half nichts. Hinsetzen war hier auch nicht möglich. Ich schleppte mich dennoch
in eine Höhle nach der anderen – diese waren wirklich beeindruckend. Aber alles
ging viel, viel langsamer als sonst. Offenbar musste ich einen Widerstand
überwinden, um in mein Inneres zu gelangen. Vielleicht war meine Schwäche auch
ein Zeichen, vorsichtig vorzugehen, hatte ich mich doch einmal in jugendlichem
Übermut in einer Höhle in eine Situation gebracht, in der ich genauso gut hätte
sterben können. Bei jeder Höhle hoffte ich, dass ich eine Erkenntnis haben oder
zumindest eine spezielle Energie spüren würde. Aber nichts dergleichen geschah.
Ich ging einfach langsam hinein, war beeindruckt, blieb eine Weile und ging zur
nächsten. Vielleicht musste ich hier die Dinge einfach zulassen, ohne sie in
Worte zu fassen? Nur ganz glauben wollte ich dies nicht, und ich fand nach der
letzten Höhle, ich könnte vielleicht eine schamanische Reise zu den Themen der
Höhlen unternehmen – aber es gab nirgends ein Ort, der sich hierfür anbot. Ich
erinnerte mich an eine Bank nicht weit weg und beschloss dorthin zu gehen, um dort
die Energie der Höhlen nachwirken zu lassen und sie thematisch zu erkunden. Als
ich mit auf der Bank hinlegen wollte, sah ich jedoch eine Zecke darauf
kriechen. Auch dies kein Ort für mich! Etwas will mich offenbar immer noch
daran hindern, mehr über die Höhlen zu erfahren. Überhaupt, ich wusste gar
nicht, dass Zecken sich auch auf Bänke verirrten - lange waren dies für mich
sichere Orte. Ich musste wohl auch sichere Orte in Frage stellen. Auch
überraschte mich, dass Zecken bei den tiefen Temperaturen überhaupt schon
unterwegs waren. Zwangsläufig musste ich weiter wandern. Bald gelangte ich zu einem
Menhir, gleich neben einem schönen Wasserfall. Aber auch hier: Kein Ort, um
sich hinzusetzen, kein Ort um zur Ruhe zu gelangen. Ich konnte nur den Menhir
und den Wasserfall wirken lassen und weiter gehen. Die Route führte dann zu
einem etwa 100 m langen Strassenabschnitt. Genau hier raste ein Feuerwehrauto
an mir vorbei und die entgegenkommenden Autos mussten anhalten. Dies führte zu
einem ziemlichen Gedränge, ich musste mich dicht an die Leitplanke drücken,
damit mir nichts geschah. Hinzu kam, dass ich befürchtete, den toten Waschbär
zu sehen, den ich genau an dieser Stelle vor ein paar Stunden gesehen hatte,
als ich auf ebendieser Strasse gefahren war. Zum Glück war er entfernt worden.
Überall Gefahren! Die Gefahren sind sogar so gross, dass man stirbt, wenn man
nicht bei der Sache bleibt. Kurz danach sah ich dann das Feuer zu dem die
Feuerwehr gefahren war – es war wohl ein
Schopf der brannte. Gefahren, Veränderung, altes brennt nieder… Keine
Gelegenheit für Ruhe. Bald war ich beim Auto und hoffte, dass ich vielleicht
mich auf der Bank daneben nun doch ausruhen würde können. Aber mittlerweile
hatte es so viel Rauch, dass auch dies nicht ging.
Da ich sowieso auf der Rückreise war, beschloss ein Stück
weiterzufahren. Auf der Route kannte ich einen Tisch bei Damvant und hoffe,
dort würde ich etwas in der Natur ruhen können. Dort angekommen machte aber genau
eine einzelne grosse Buche Schatten, die eigenartigerweise bereits Blätter
hatte - alle anderen hatten noch kein Laub. Leben wirft Schatten… Es war viel
zu kalt, um sich dort hinzulegen. Zudem hatten meine Vorgänger an dieser Stelle
ein Feuer entfacht und nicht gelöscht – auch hier war alles voller Rauch und ich
musste also weiter. Weil hier gerade wieder in der Schweiz, prüfte ich meine
Emails und las, dass die Mutter einer Kollegin gestorben sei. Kommt wirkliche
Ruhe erst im Tod? Ist Ruhe im Leben eine Illusion? Ich fuhr weiter zum Etang de
Bonfol. Neben diesem Weiher würde ich aber doch etwas Ruhe finden, hoffte ich
trotzdem. Nur, dort war der Zugang gesperrt, weil genau an dieser Stelle die
Gleise erneuert wurden und der Bahnübergang gesperrt war. Ich dachte: Die
Erneuerung eines Weges blockierte meinen Weg. Ich entschloss retour an den
Weiher von Vendlincourt zu fahren. Hier störte aber ein Alphornbläser die Ruhe.
Ich dachte: Der Klang eines anderen verhinderte meine Ruhe. Ich beschloss von
dort zu Fuss an den Etang de Bonfol zu wandern, wählte die Strecke der Grenze
entlang, wild und schön, nur konnte ich mich auch hier nirgends ausruhen –
alles war zu matschig. Beim Etang de Bonfol angekommen, fand ich diesen zwar menschenleer,
nur war es mittlerweile zu kalt, um auszuruhen und ich musste auch nach
Vendlincourt zurück, bevor es dunkel wurde. An diesem Tag war nichts mit Ruhe…
Am nächsten Tag ging ich bei Regen auf den Kastelberg von
Bendorf aus, einem keltischen Oppidum wieder in Frankreich. Da es noch kaum
Laub hatte, sah ich dieses Mal mehr Ruinen und Ausgrabungen als bei früheren
Besuchen. Dazu gehörten einige keltische Grabhügel. Einer davon war auf der
Karte als Höhle eingezeichnet (die 6. Höhle!) und man hätte hineingehen können,
aber auf halbem Weg nach unten, kehrte ich um, da ich nicht sicher war, ob ich den
extrem rutschigen und matschigen Abstieg wieder hinaufklettern würde können.
Ich dachte: Es ist noch nicht Zeit zum Sterben… Als nächstes kam ich zu den
Grottes du Dr. Hering (die siebte Höhle!), nach dem Erforscher dieser Höhle
benannt, welcher hier verunfallt war – wieder Tod... Entsprechend vorsichtig
ging ich nur ein kleines Stück hinein und als ich herauskam, schien
unvermittelt die Sonne, aber gleichzeitig heulte ein Sirenenalarm.
Mit dieser letzten Höhle schien die Geschichte
abgeschlossen und nun gelang mir auch die schamanische Reise. Auf dieser hörte
ich zu jeder der sieben Höhlen einen Klang, jedoch keine Mitteilung, keine
Erkenntnis, nur einen Klang. Wollte die Sirene nach der letzten Höhle mir das
gleiche sagen? Vielleicht auch der Alphornbläser? Diese Töne aus jeder Höhle
schienen mir wie Wegbegleiter, ein Set von sieben Strängen, denen ich folgen
konnte – vielleicht so wie das Gleis? Musste ich mein eigenes Gleis finden?
Dieses Erneuern? Vielleicht gab es einen Ton für jedes Chakra – denn es waren
in dieser Geschichte sieben Höhlen. Es wurde mir klar: Es waren diese Klänge,
welche die eigentliche Ruhe darstellten. Diese war nicht im Aussen zu finden. Es
gibt im Aussen kein Ankommen, kein Ort, wo ich die perfekte Welt finde, mich in
Ruhe allem widmen kann. Immer steht etwas im Weg. Sicher, mitunter schon kurze
Momente der Ruhe, diese ist aber selten nachhaltig. Ich kann mir keinen Ort der
äusseren Ruhe schaffen, obwohl das so viele Menschen versuchen, sei dies mit
Häusern und Gärten, mit Kirchen, Tempeln und dergleichen. Im Aussen ist immer
alles in Bewegung, ich fliesse durch diese bewegte und sich ständig verändernde
Welt und folge den inneren Klängen. Dort ist die Ruhe, die ich suche.
Interessanterweise hatte ich mich in den Wochen vor der
Reise mit Lärmschutzwandaufsätzen auseinandergesetzt, wo mit sogenannten
Helmholtzresonatoren bestimmte Wellenlängen aus dem Lärm herausgefiltert werden,
in der Hoffnung, man könne dann mit diesen Wellen den Lärm mehr nach oben
ablenken und so die Wirkung der Lärmschutzwand vergrössern. Es schien mir das
gleiche Prinzip: Einzelne Töne bringen Ruhe in die Unruhe.
Unweigerlich kommen dabei auch die Songlines der
australischen Aborigines in den Sinn. Auch diese sprachen mitunter von Linien
oder Klängen in der Landschaft, denen sie folgten. Auf einem Walkabout konnte
es die Aufgabe eines jungen Menschen sein, den eigenen Klang zu finden.
Die Ruhe finde ich also im Innen, nicht im Aussen. Im
Aussen sind die Dinge bewegt. Im Inneren haben wir eine Art Klangschiene, der
wir einerseits folgen können und uns dadurch die nötige Ruhe gibt, sofern wir
auch auf sie hören. Im Aussen sind die Dinge hingegen bewegt. Das müssen sie
auch, denn das Leben ist Bewegung. Alle unsere Versuche im Aussen anzukommen
scheitern deshalb. Stattdessen können wir auf unseren inneren Klang suchen und hören.
Grottes de Waroly in der Nähe von Mancenans-Lizerne.