Samstag, 1. November 2014

Grenzen


In den letzten Monaten zog es mich immer wieder zu Wanderungen, welche auch Grenzen verlaufen. Meist führten diese auf den Landesgrenzen zwischen der Schweiz und Frankreich, z.T. auch zu Deutschland und Italien oder auch auf der Grenze zwischen  Liechtenstein und Österreich. Zu Beginn wusste ich nicht genau, wieso ich dies tat, ich wusste aber, dass es sich stets lohnt solchen Impulsen nachzugehen. Nach und nach merkte ich, dass es darum ging, die Qualitäten von Grenzen auf diese Art und Weise kennen zu lernen. Grenzen bestehen ja nicht nur zwischen Ländern, sondern auch zwischen Menschen, oder zwischen der Arbeits- und Privatwelt oder etwas zwischen der materiellen und der spirituellen Welt. Hier möchte ich einige meiner Beobachtungen aufführen und schildern, welche Erkenntnisse ich daraus ableiten konnte.

 




Beobachtungen an Landesgrenzen können Erkenntnisse über Grenzen im Allgemeinen liefern. Alle Fotos: Jakob

Die Bewirtschaftung der Wälder und Felder ist meist von Land zu Land radikal anders. Der Wechsel findet meist genau an der Grenze statt und ist deshalb hier besonders ersichtlich. Sehr gut ist diese Änderung entlang der Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz ersichtlich, weil hier die Grenze meist durch geologisch und klimatisch genau gleiche Gebiete geht. Die Natur wäre hier auf beiden Seiten genau gleich – die Unterschiede stammen alle von menschlicher Hand. Es kommen hier zwei Bewirtschaftungsphilosophien auf engstem Raum zusammen, die eigentlich weit weg – in Bern, Paris oder Brüssel – entwickelt wurden.

Erkenntnis: Von Natur aus wären die Übergänge fliessend und es bestünden keine abrupten Grenzen.  Dies wäre auch bei anderen Grenzen so, etwa bei Menschen. Das heisst es bestünde nicht wirklich ein klarer Ort, wo jemand aufhört und der nächste beginnt, sondern auch dies wäre wohl ein fliessender Übergang. Doch versuchen wir stets unsere Grenzen klar zu definieren, es besteht kein klarer Ort wo jemand aufhört und der nächste beginnt. Es tut gut, Grenzen nicht als etwas absolutes, sondern als etwas fliessendes anzuschauen.

Ausser bei hohen Bergketten, Seen und Flüssen, befindet sich fast überall ein Weg, welcher exakt auf der Grenze verläuft und von Grenzstein zu Grenzstein führt. der von Grenzstein zu Grenzstein führt. Es ist also meistens sehr einfach, genau auf der Grenze zu wandern und auf der einen Seite das eine Land und auf der anderen das andere wahrzunehmen. Interessanterweise ist dieser Grenzweg oft unabhängig von den Wald- oder Feldbewirtschaftungswegen auf beiden Seiten. Das heisst, jede Seite hat seine eigenes Wegnetz, der Weg auf der Grenze ist eigenständig.

Erkenntnis: Es ist immer die Aufgabe eines Menschen, insbesondere eines Schamanen, der einen eigenen Weg geht, die Dinge aus den verschiedensten Blickwinkeln anzuschauen. Konkret kann dies der Blickwinkel der materiellen und der spirituellen Welt sein, oder etwa der eigene und der Blickwinkel eines anderen Menschen oder etwa der Blickwinkel der Menschheit und der des Planeten. Ein Mensch ist in diesem Sinne immer auch ein Grenzgänger. Ein Mensch der eigene Wege geht ist auch unabhängig von bestehenden Wegnetzen in den einzelnen Bereichen. Er ist etwa unabhängig von bestehenden Wegen in der materiellen Welt aber auch von bestehenden Wegen in der spirituellen Welt – er lässt sich nie in solche einbinden.

 




Beispiele von Wegen direkt auf der Grenze zwischen Frankreich und er Schweiz.

Jedes Land hat eigene Methoden Dinge zu markieren, wie etwa Wanderwege, Strassen, Wegkreuzungen, zu fällende Bäume, Wasserleitungen. Diese Markierungen ändern meist genau auf der Grenze, das Design der Ortstafeln ändert beispielsweise sofort. Eine Ausnahme sind Wanderwegmarkierungen, welche mitunter über die Grenze hinweggehen. So dringen Schweizer Wanderwegmarkierungen nach Frankreich und umgekehrt. Wieso diese Ausnahme? Wieso ist bei Wanderwegen erlaubt, was bei anderen Markierungen nicht der Fall ist? Was könnte die symbolische Bedeutung sein?  Wieso beim Wandern nicht, wieso sind dort Grenzüberschreitungen erlaubt? Was ist die symbolische Bedeutung?

Erkenntnis: Wandernd, eine langsame und wohl die natürlichste Bewegungsart, in der wir auch nichts verändern (wie z.B. Bewirtschaftung) ist die beste Art das andere zu erkunden, wir müssen langsam, natürlich, respektvoll vorgehen, wenn wir uns jenseits einer Grenze bewegen. Dies gilt sowohl dann, wenn wir etwa einen anderen Menschen kennen lernen, wenn wir eine andere Ansicht oder Philosophie uns anschauen, wenn wir und in der spirituellen Weg bewegen. Die Art und Weise des Wanderns ist hierzu geeignet, die anderen forscheren Bewegungsarten oder gar wenn wir versuchen Dinge zu verändern nicht mehr.
 


Eigentlich ändert die Wanderwegmarkierung wenn man in die Schweiz kommt, wie die obenstehende Tafel kundtut, doch gehen die Markierungen oft über die Grenze (siehe Bild unten).


 
Dieser Wanderweg ist sowohl mit französischen wie auch mit schweizerischen Wanderwegzeichen markiert.

Die Grenzsteine sind sehr unterschiedlich markiert. Manchmal steht auf der Schweizerseite das Land, manchmal ein Kanton und dies manchmal als Abkürzung und manchmal als Wappen. Alte Grenzsteine mit überholten Bezeichnungen (wie z.B. Bern, wo jetzt Jura wäre, oder Grossherzogtum Baden, wo jetzt Baden-Württemberg wäre, oder beim Dreiländergrenzstein in der Nähe von Réchésy, wo Deutschland gar nicht mehr angrenzt). Die Grenzsteine sind auch unterschiedlich alt, es wirkt so, wie wenn die Grenze über die Jahre ständig verfeinert wurde und leicht verändert wurde.

Erkenntnis: Auch unsere Grenzen verhalten sich so: Im Verlauf unseres Lebens und je mehr wir uns entwickeln, desto verfeinerter sind die Grenzen. Unsere Heilung bringt gewisse Themen zum Verschwinden und so sind unsere Grenzen an ganz anderen Orten. Manchmal treten aber auch neue Themen an die Stelle der alten.


 Grenzstein am nördlichsten Punkt der Schweiz, auf dem auf deutscher Seite die Abkürzung GB (Grossherzogtum Baden) angebracht ist. Die Schweiz endet hier in einer Spitze, was durch den spitzen Winkel gezeigt wird (Winkelinnenseite: CH, Winkelaussenseite: D)
 

Klare, modernere Beschriftung auf der Grenze zwischen Liechtenstein und Österreich.

Der Grenzverlauf ist oft extrem unregelmässig. In gewissen Gebieten führt er zwar schon entlang Wasserscheiden oder Flüssen, aber immer wieder mit Ausnahmen. Dort wo die Grenze keiner erkennbaren geografischen Logik folgt, ist der Verlauf sowohl im Grossen wie auch im kleinen Detail oft unsinnig. Da gibt es etwa eine Stelle (Bänggenspitz) bei Biel-Benken im Kanton BL an der Grenze zu Frankreich, wo die Schweiz nur noch etwa 50 m breit ist um dann wieder etwas dicker zu werden für ca. 800 m, um dort ein Waldstück zu umfassen, welches nach Frankreich hineinreicht. In dieses kleine Stück führt eine Schweizer Waldstrasse (wie könnte es anders sein) damit es nach Schweizer Normen bewirtschaftet werden kann. Weitere Beispiele sind die chaotischen Grenzverläufe zwischen Deutschland und der Schweiz zwischen Eglisau und Stein am Rhein. Die Geschichte hat zu diesem Grenzverlauf geführt, selten wurden Korrekturen vorgenommen.

Erkenntnis: Wenn wir unsere Grenzen nicht ständig überprüfen und korrigieren, dann werden sie chaotisch und unübersichtlich. Es ist uns dann beispielsweise nicht mehr klar, welche Themen wir wirklich noch anzugehen haben. Es lohnt sich deshalb unsere eigenen Grenzen mitunter anzuschauen und dort wo sie chaotisch sind zu heilen, damit wir abgerundeter unserem Leben begegnen können

 



Zwei weitere unregelmässige Grenzverläufe zwischen Frankreich und der Schweiz. Zu beachten vor allem der zweite Grenzstein, bei dem sogar auf dem Stein selbst die Grenze im Zentimeterbereich unregelmässig verläuft.

An der Grenze selbst ist es heutzutage meist friedlich: Es geht auf kleinen Weg von Grenzstein zu Grenzstein. Dass eine solche Grenze einmal bewaffnet oder umkämpft war ist nicht ersichtlich. Geht man aber etwas ins Innere der jeweiligen Länder, dann findet man zum Beispiel die Befestigungsanlagen oder Sperren aus den Weltkriegen. Diese sind als nicht an der Grenze selbst sondern meistens etwas versetzt. Zudem sind die Befestigungsanlagen selten symmetrisch, das heisst, wo die Schweiz Bunker gegen ein anderes Land gerichtet hat (z.B. gegen Deutschland) hat es auf deutscher Seite keine, aber wo z.B. Italien Bunker gegen die Schweiz gerichtet hat (wer das nicht glaubt, soll einmal zwischen Ponte Tresa und Porto Cerèsio in den Hügeln oberhalb des Lago di Lugano auf italienischer Seite wandern), hat die Schweiz wesentlich weniger Befestigungsanlagen. Auch beobachtet man grosse Unterschiede in der Dichte der Verteidigung je nach Ort, ohne dass aus der Geografie klar wird wieso. Man könnte meinen, dass Solches sorgfältig nach Kosten und Nutzen überlegt worden wäre – für mich ist diese Logik aber oft nicht ersichtlich. Zusammengefasst: Grenzen werden versetzt verteidigt, die Abwehr ist nicht symmetrisch und sie wird oft punktuell verstärkt, ohne dass die Logik dahinter offensichtlich wäre.

Erkenntnis: Diese Beobachtungen sind wichtig, wenn wir auf Grenzen von anderen oder anderem stossen. Nur weil wir an der Grenze selbst noch kein Thema erkennen, heisst nicht, dass es nicht ausbricht, wenn wir etwas tiefer gehen. An der Oberfläche sind die Dinge also oft noch gut, wir treffen aber auf Widerstand, wenn wir etwas oder jemand vertieft kennen lernen. Die Abwehr der anderen Person ist aber nicht logisch und symmetrisch, d.h. wir können von unserer Warte nicht auf den anderen schliessen. Auch wenn wir an einer Stelle (z.B. bei einem Thema) auf Widerstand stossen, heisst nicht, dass es an einer anderen Stelle durchlässig ist. Wir kommen z.B. bei gewissen Menschen bei manchen Themen in die Tiefe und bei anderen nicht – ohne dass eine erkennbare Logik dahinter stecken würde. Eine Grenze lässt sich am besten langsam abtasten und wir müssen uns dabei bewusst sein, dass die anderen unsere Grenzen und Themen auch als unlogisch empfinden und dass sie unsere Verteidigung genauso wenig verstehen wie wir ihre.
 


Schweizer Panzersperren, welche ein gutes Stück von der Grenze entfernt liegen.

Und wie so oft, wenn man denkt, man habe eine Geschichte zusammen, dann geht sie weiter: So hatte ich bis hierhin geschrieben und dann zog es mich auf einer weiteren Wanderung nochmals an die Grenze, diesmal in der Nähe von La Brévine. Zu meinem Erstaunen hatte es hier einen offiziellen Wanderweg exakt auf der Grenze, welche sogar die Grenzsteine zum Thema hatte, der „Sentier des Bornes“. Interessanterweise war dieser Weg weiss markiert, im Gegensatz zum üblichen Gelb. Weiss ist für mich die Farbe es Herzens, entscheidet man mit einem „weissen Herzen“, so geht man seinen eigenen Weg. Und hier war der Weg genau auf der Grenze, weder auf der einen noch auf der anderen Seite. War dies das Zeichen, dass der Weg des Herzens ein Weg der Balance ist – so wie es beispielsweise auch Buddha lehrte? Auf diesem weissen Weg hatte es aber einen Störfaktor: Immer wieder bemerkte ich am Boden orange Pfeile, welche in die entgegengesetzte Richtung zeigten. Diese Pfeile kennzeichneten den Weg zusätzlich als Mountainbike Strecke. Im Gegensatz zur Wanderweg Markierung, waren diese schludrig mit einer Spraydose angebracht und es hatte wesentlich mehr orange Pfeile als weisse Wanderwegmarkierungen. Beim Mountainbike fahren ist die Beziehung zur Natur, der Kontakt mit der Erde meist nicht die Hauptmotivation, sondern der Weg ist ein Hindernisparcours, denn es zu bewältigen gilt. Dies gibt einen Kick, dies ist gewissermassen eine Ablenkung vom eigentlichen Weg. Es geht bei Wegen nicht um diesen Kick, es geht um das Herz. An einer Stelle (siehe Bild unten) zeigten dann zwei weisse Pfeile auf einen roten Punkt, alles auf einem Baumstamm angebracht – dies fasste in meinen Augen dann alles zusammen:  Meine Existenz (rot) auf dem Baumstamm (mein Weg, wachsend, oder auch meine Verbindung von Erde und Himmel) ist ein Weg der Balance. Nicht zu viel. Nicht zu wenig. Nicht zu weit, nicht zu nah. Und in allem darf ich mich vom schnellen Vergnügen nicht ablenken lassen …


 



 

 



 
Markierungen auf dem „Sentier des Bornes“ in der Nähe von La Brévine.

 
Diese Beschäftigung mit Grenzen ist ein weiteres Beispiel dafür, wie man sich mit einem Thema auseinandersetzen kann, indem man Analogien im Aussen sucht und das, was man beobachtet symbolisch interpretiert.

 


 Beim Zoll in Lucelles treffen französische und schweizerische Strassenmarkierungen zusammen.