Donnerstag, 3. September 2015

Haben wir einen freien Willen?


Der Schamane entscheidet mit dem Herz. Dies - so würde man auf Anhieb sagen – bedingt, dass wir über einen freien Willen verfügen, sprich, dass wir die Wahl haben, mit dem Herzen zu entscheiden oder auch nicht. Haben wir uns einmal für das Herz entschieden, dann ist die Sache so oder so unklar: Was ist es genau, was unserem Herzen den Impuls gibt? Wer sagt, was unser Weg ist? Sind wir unser Herz oder ist es sonst etwas? Was geschieht, wenn wir im Sinne von mehr Liebe entschieden? Wer weiss das so genau? Der Herzentscheid selbst hat deshalb wohl wenig mit freiem Willen zu tun. Aber wie ist der Schritt vorher? Haben wir wirklich die Wahl, mit dem Herzen zu entscheiden oder nicht?
Landläufig sind wir durchaus der Meinung wir hätten einen freien Willen. Wir sind uns sicher, dass es ein Ich gibt, welches sich aus freien Stücken entscheidet, egal ob das eine wichtige Entscheidung ist, zum Beispiel die Wahl eines Lebensgefährten, oder eine unbedeutendere, wie zum Beispiel ob wir diese oder die andere Frucht im Lebensmittelgeschäft kaufen. Der freie Wille wird kaum in Frage gestellt.
Dieser freie Willen lehnen wir hingegen in der Regel bei den meisten anderen Lebewesen ab. Insekten, Bakterien, Pflanzen und alle anderen Lebewesen verfügen über einen Instinkt, so finden wir. Ihr Verhalten würde sich nach komplexen aber vorbestimmten Abläufen richten, ganz analog zu Computerprogrammen. Die anderen Lebewesen reagieren auf eine vordefinierte Art und Weise, je nachdem welche äusseren Reize auf sie einwirken. Wir Menschen sind aber anders: Wir haben Sprache, Kultur, Pläne, Konzepte und so weiter. Und dies geht ohne freien Willen nicht. Andere Lebewesen hätten keine solchen Errungenschaften, deshalb auch keinen freien Willen.
Vergleichen wir aber versuchsweise Menschen und Ameisen und zwar von einem Blickwinkel von weit aussen – so als seien wir selbst keine Menschen, sondern neutrale Beobachter. Aus dieser Warte sehe ich keine grundsätzlichen Unterschiede: Beide leben in komplexen Sozialsystemen mit einer Sprache (bei uns auf akustischer, bei den Ameisen auf chemischer Basis), einer Arbeitsteilung, Ritualen, Plänen, Verkehrswegen mit Regeln, Landwirtschaft und so weiter. Sogar betreffend Nachhaltigkeit und Umweltschutz sind wir gleich: Sowohl Menschen wie Ameisen können ihre Umgebung soweit zerstören, dass sie ihre eigene Lebensgrundlage vernichten. Die Mechanismen mögen zum Teil unterschiedlich sein, doch ist das Resultat im Kern sehr ähnlich. Haben nun Ameisen und Menschen beide einen freien Willen, oder haben beide keinen? Ameisen sind ein offensichtliches Beispiel der Ähnlichkeit zwischen Mensch und anderen Lebewesen, doch findet man problemlos weitere Beispiele: So kommunizieren etwa Bäume miteinander um sich vor einem Insektenbefall zu warnen.
Rein vom vergleichenden Beobachten her, ist es also kaum möglich herauszufinden, wer nun einen freien Willen hat und wer nicht. Ich erkenne keine Grenze. Im Prinzip hat alles einen freien Willen oder nichts. Zudem erkenne ich an uns Menschen nichts, dass nicht auch mit komplexen Programmen erklärt werden könnte. In anderen Worten sehe ich keinen Weg zu beweisen, dass wir einen freien Willen hätten. Noch sehe ich eine Möglichkeit, das Gegenteil zu beweisen. Diese Frage bleibt meines Erachtens ungeklärt – nicht nur beim Herzentscheid, auch vorher.
Aber vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass wir diese Frage nicht klären können. Wieso? Erstens gibt es uns eine gewisse Bescheidenheit – wir sind nicht anders als alle anderen Lebewesen. Zweitens beobachten wir unser eigenes Verhalten wachsamer und bewusster, wenn wir uns immer wieder die Frage stellen, ob wir nun aus eigenen Stücken entschieden haben oder nicht. Drittens könnte es so sein, dass alles sowieso nach einem anderen, uns unbekannten Mechanismus abläuft und so werden wir ständig daran erinnert, dass die Dinge meist anders sind, als wir denken.
Bleiben wir kurz beim letzten Gedanken: Wenn wir sagen, die Dinge sind anders, als wir denken, ist es sogar möglich, dass „freier Wille“ und „kein freier Wille“ beides Projektionen von etwas Umfassenderem sind, das wir nicht kennen oder erfassen können. Gewissermassen sieht etwas von der einen Seite her als freier Wille aus, von der anderen hingegen nicht. Aber beide sind nicht wirklich das Vollständige. Dieses bleibt unbekannt.
Was wäre nun ein konkreter Umgang mit dieser Unklarheit. Ich schlage vor, die Dinge immer aus beiden Perspektiven anzuschauen. Wie sieht etwas aus, wenn wir davon ausgehen, wir hätten einen freien Willen und wie sieht es aus, wenn wir keinen hätten. Hat jemand etwa ein Verbrechen begangen, dann betrachten wir die Situation, als hätte dieser einen freien Willen gehabt (er ist schuld…) und auch so als hätte er keinen freien Willen gehabt (es sind die Umstände, die ein Programm bei ihm auslösen…). Und wir entscheiden erst dann mit dem Herzen, wenn wir beide Perspektiven wahrgenommen haben. Für die praktische Anwendung des Schamanismus ändert sich in diesem Sinne nichts – wir entscheiden nach wie vor mit dem Herzen – weil wir aber weitere Perspektiven wahrnehmen, bestehen mehr Möglichkeiten und so kann das Herz eher den richtigen Weg finden.
Und vielleicht, wenn dies gar nicht so ist und wir tatsächlich in unserer üblichen Wahrnehmung keinen freien Willen haben, so hat es diesen vielleicht doch irgendwo – sonst hätten wir wohl diese Idee nicht. Um ihn jedoch zu finden, müssen wir aber vermutlich zuerst anerkennen, dass wir keinen haben, denn die Illusion des freien Willens, verhindert vermutlich genau, dass wir den eigentlichen freien Willen finden. Diesen zu suchen (ob er dann existiert oder nicht) kann schon deshalb eine lohnende Aufgabe sein, weil wir dann die Welt ganz anders zu betrachten beginnen. Und wo könnte dieser freie Wille sein? Vielleicht in einem Raum beziehungsweise einer Dimension, die noch umfassender ist, als das Herz oder die Liebe.
Wie auch immer – es gibt noch ganz viel zu entdecken.
 


Haben Ameisen einen freien Willen? (Quelle: http://wall.alphacoders.com)