Sonntag, 1. März 2015

Der Schamane und die Welt


Egal wo man hinschaut, überall ist etwas am Geschehen, ob in der weiten Welt, im eigenen  Land oder in der Gemeinde. Wir hören vom Krieg in der Ukraine, von den ISIS Terroristen, von Epidemien, Attentaten, Bankenskandalen, Klimaveränderungen oder auch lokalen Problemen wie Korruption und Planungsfehlern beim Bau von neuen Strassen oder Turnhallen. Mitunter sind wir aktiv aufgefordert, unsere Meinung zu äussern, etwa an Wahlen oder an Abstimmungen, aber meist geschehen diese Dinge ohne unser Hinzutun. Wir äussern allenfalls unser Unmut in Diskussionen mit unseren Mitmenschen. Dabei denken wir oft, dass unser Einfluss klein ist – was zählt schon unsere Stimme, oder wie könnte der Ukrainekrieg durch unsere Meinung beeinflusst werden?

Aber schauen wir genauer hin: Unsere Reaktionen auf diese Ereignisse basieren auf Entscheidungen die wir fällen. Es ist eine Entscheidung, wem wir unsere Stimme geben. Es ist auch eine Entscheidung, wie wir gegenüber unseren Mitmenschen den Ukrainekonflikt oder die Ebola Epidemie kommentieren. Es ist ferner eine Entscheidung, ob wir eine konkrete Handlung tätigen oder nicht, etwa ob wir spenden, hingehen oder Flüchtlinge aufnehmen.  Und – wie schon sehr oft erwähnt – wollen wir unseren eigenen Weg im Leben gehen, so müssen alle unsere Entscheide mit dem Herzen gefällt werden. Dies gilt selbstverständlich auch für unsere Entscheide, ob und wie wir uns gegenüber Weltproblemen verhalten, wie wir wählen oder abstimmen oder welche Meinungen wir äussern.

Unsere konkrete Reaktion dürfen wir aber nicht davon abhängig machen, ob wir den Eindruck haben, unser Beitrag würde eine Rolle spielen oder nicht (dies wäre ein Kopf- oder ein Gefühlsentscheid), sondern wir tun etwas oder äussern uns auf eine bestimmte Art, weil unser Herz ja sagt dazu.

Abgesehen davon ist alles auf der Welt miteinander vernetzt. Dies geschieht in der spirituellen Welt sogar noch viel stärker als in der materiellen. So ist unser Einfluss unter Umständen viel grösser, als wir vermuten. Weil die Zusammenhänge vielfältig und komplex sind, ist es kaum abzuschätzen, was unser persönlicher Einfluss sein wird.

Und noch etwas gilt es zu beachten: Die Tatsache, dass wir Kenntnis davon haben, dass man mit dem Herz entscheiden kann, gibt uns auch eine grosse Verantwortung, dies tatsächlich zu tun. Oder umgekehrt, jeder nicht gefällte Herzentscheid hat einen negativen Einfluss auf das Geschehen, einen, den wir hätten vermeiden können.

 


Zeugnis aus der islamischen Zeit in Spanien. Wieso ich dieses Bild zeige wird im Verlauf des Textes klar.

Damit wir aber betreffend den Geschehnissen im Aussen mit dem Herzen entscheiden können, ob und welcher Beitrag wir leisten, müssen wir sicher sein, dass wir alle Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, auch wirklich wahrgenommen haben. Unser Herz kann nicht zu einer Möglichkeit zustimmen, die wir gar nicht kennen. Es ist deshalb nötig, dass wir die Situationen genau analysieren, bevor wir mit dem Herz entscheiden. So stossen wir allenfalls auf Handlungen, die uns sonst verborgen geblieben wären. Ohne diese genaue Analyse hätten wir also unseren eigenen Weg nicht gehen können, weil wir ihn gewissermassen nicht gesehen hätten.

Selbstverständlich können wir uns dabei nicht im Detail mit allem befassen was es auf dieser Welt gibt. Der Massstab ist unsere Betroffenheit. Spüren wir ein Gefühl, eine Verzweiflung oder Schmerzen, dann lohnt sich das genauere Hinsehen. Die anderen Themen können wir ruhig beiseitelassen.

Selbstverständlich geht es bei allen Themen auch immer um innere Wege und um die innere Heilung – dies sei hier explizit in Erinnerung gerufen. Wir beobachten also nicht nur die Themen im Aussen und bestimmen mit dem Herzen, wie wir darauf reagieren, sondern wir widmen uns gleichzeitig der Heilung unserer Wunden, die wir dank diesen Themen erkennen. Vielleicht ist dies auch schon genug und konkrete Handlungen im Aussen sind gar nicht notwendig. Dieser Ansatz gilt immer – ich habe ihn mehrmals in Foren und Büchern beschrieben – er ist aber nicht der Fokus des vorliegenden Artikels.

 Wie geht man nun konkret vor? Dies lässt sich am besten an einem Beispiel zeigen. Hierzu wähle ich den Islam, welcher in letzter Zeit dauernd in den Medien ist, sei es wegen ISIS, Charlie Hebdo, die Rettung des Abendlandes und dergleichen. Ich schildere dabei mein persönlicher Zugang – dies muss so sein, denn es handelt sich ja immer um eigene Wege. Andere Menschen mögen andere Möglichkeiten und andere Handlungen sehen, die sie dann von Herzen umsetzen können. Es geht mir hier also nicht darum, zu erklären, dass ich die richtige Ansicht oder die richtigen Handlungen mache, sondern zu zeigen, wie ich im Sinne eines Beispiels dieses Thema angegangen bin und wie ich zu den Entscheidungen und Handlungen gekommen bin, die meinem Herz entsprechen.

Schon lange vor Charlie Hebdo und ISIS stiess ich in Spanien auf den Islam. Grosse Teile der iberischen Halbinsel waren von 711 bis 1614 islamisch. In dieser Zeit – in der das übrige Europa im tiefen Mittelalter steckte  - erlebte Spanien eine wahre Hochkultur. Sehr geholfen hat dabei die Toleranz der islamischen Herrscher gegenüber anderen Religionen, hauptsächlich den Christen und Juden. In dieser Vielfalt konnten neue Ideen aufkommen und bedeutende islamische Weisheitsträger wie etwa Ibn Al-Arabi lebten und wirkten in Spanien.

Mein in Spanien generiertes Interesse am Islam führte mich zu den wichtigen Weisheitsträger und Poeten des Islam (wie Rumi) und zu den Sufis.  Ich entdeckte bei letzteren Ansichten, die ich nicht erahnt hätte – so liegt das Weltbild der Sufis sehr nah am schamanischen. Zum Beispiel geht es den Sufis auch darum, den eigenen Weg zur Liebe zu finden. Ich habe weiter die Stimmung in einigen Moscheen wahrgenommen und war erstaunt wie friedlich etwa die Stimmung in der Hauptmoschee von Paris war – überall hatte es Teppiche und Kissen auf denen Menschen sassen und beteten oder meditierten.

Kurz, der Islam, den ich erlebte, war ganz anders, als das was ich in der Zeitung las, oder etwa eine Woche nach Charlie Hebdo am Gard du Nord mitverfolgte, als ich beobachtete, wie fünf Polizisten einen zappelnden, arabisch aussehenden Mann durch den Bahnhof schleppten. Es war auch anders als die Hetze, die ich von rechtspopulistischen Parteien oder Exponenten wie Thiel oder von Pegida erlebte. Dieser Widerspruch beschäftigte mich, machte mich betroffen und ich forschte weiter.

Ich las einige Bücher über den Islam und begann dessen Entstehung und Inhalt zu verstehen. Ich sah durchaus die Widersprüche im Koran, ich sah die Passagen, welche zu Gewalt auffordern – entdeckte dann aber Passagen mit dem genau gleichen Inhalt auch in der Bibel. Auch das Christentum hat eine sehr blutige Geschichte und auch hier wurden Religionsstaaten mit Terror gefordert. Ein Beispiel ist Genf, wo der Reformator Calvin (heute gefeiert) seine religiösen Gegner öffentlich verbrannte… Erinnern wir uns auch an die Hexenverbrennungen, die Kreuzzüge, die Ausrottung der Katharer und so weiter. In anderen Worten waren die Texte beider Religionen voller Gewalt aber auch voller Weisheit. Und beide Religionen konnten Gutes oder Schreckliches begründen.

Meine Schlussfolgerung: Der Islam ist vielfältig. Er ist wie die Menschheit selbst, voller Gutem und Bösem. Das Problem ist nicht der Islam als solchen, sondern es entsteht dort, wo ihn Einzelne auf wenige Schlagworte reduzieren wollen und dabei natürlich meist ganz andere Ziele verfolgen, etwa mehr Macht oder Prestige. Dies gilt sowohl für die Anhänger, wie für die Gegner des Islam. Diese Beobachtung gilt ferner nicht nur für den Islam, sondern für jede Religion, überhaupt für jede Philosophie oder gar für jedes System. Die Dinge sind komplex und vielfältig – es ist eine Gefahr, sie zu stark zu vereinfachen.

Die Konsequenz ist, dass die Dinge in ihrer ganzen Vielfalt angesehen werden sollten. Es hat viele Aspekte zu allem und am besten erkennt man diese, wenn man die unterschiedlichen Sichtweisen wahrnimmt. Dies gelingt am besten, wenn man sie zuerst aus einer möglichst übergeordneten Perspektive ansieht. Dann bemerkt man, dass in den Teilsystemen die Menschen nur streiten, weil sie nicht das Ganze sehen. Es geht also darum, die Dinge nicht zu vereinfachen, nicht in Untersysteme einzuteilen sondern die Dinge immer in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Es geht in diesem Sinne nicht um Islam oder Christentum, sondern um organisierte Religionen, oder sogar um Philosophien oder um das Menschsein oder um das Leben als Ganzes.

Wie gehe ich nun damit um? Welche Handlungen ergeben sich aus dieser Analyse, zu denen mein Herz dann auch ja sagen könnte? Ich erkenne, dass ich – wo nur möglich – mich dafür einsetzen kann, dass Dinge differenzierter betrachtet werden. Ich muss die Vielfalt von Ansichten unterstützen und immer wieder anregen, die Dinge möglichst aus übergeordneter Sicht anzusehen.

Wo kann ich nun so handeln? Einerseits kann ich meine Erfahrungen mit dem Islam anderen mitteilen (wie ich jetzt zum Beispiel mit diesem Text tue). Ich kann auch mein übriges Leben betrachten, und mich dafür einsetzen, dass man die Dinge aus übergeordneten Sichtweisen betrachtet. Ich bin ja in sehr vielen Systemen eingebunden, etwa bei meiner Arbeit und kann dort beispielsweise verstärkt Projekte vorschlagen,  die Gesamtsysteme anschauen, statt Details.

Die Aufgaben (von Herzen), die ich also aus meiner Betrachtung des Islams ableite sind:

·        Überall wo ich in Systeme eingebunden bin, setze ich mich dafür ein, dass die Dinge aus übergeordneten Perspektiven angeschaut werden, statt, dass sie in Einzelteile heruntergebrochen werden.

·        Dort wo ich vereinfachende, plakative oder polemische Schilderungen höre, versuche ich die Vielfalt darzustellen und aufzuzeigen, dass es viele Wege und Sichtweisen gibt.

Diese Handlungen haben nun nicht direkt mit Charlie Hebdo, dem Krieg in Syrien oder Pegida zu tun – aber es sind die Handlungen, die ich konkret zu diesem Zeitpunkt machen kann. Ich muss dabei nochmals betonen: Für andere Menschen mögen andere Handlungen aus ihrer persönlichen Analyse stammen – jeder Mensch hat einen eigenen Weg des Herzens.