Mittwoch, 1. Juli 2015

Ist "Alles" erklärbar?


„Alles“: Können wir die Gesamtheit erklären?

Um es gleich vorweg zu nehmen: Nein – so zumindest meine Behauptung – wir können die Gesamtheit, also „Alles“ nicht erklären. Es ist nicht möglich eine Theorie, ein Modell, eine Beschreibung oder eine Erklärung zu erarbeiten, welche vollständig ist und restlos alles erklärt. Nicht, dass es nicht schon unzählige Versuche gegeben hätte: Die Wissenschaft, die Religion, die Philosophie – alle haben es immer wieder versucht. Nicht nur haben sie es versucht, oft sind sie sogar vollkommen überzeugt, die Erklärung für Alles auch gefunden zu haben. Und wenn es noch irgendwo eine Erklärungslücke gibt, dann platzieren sie einen Gott oder Götter an diese Stelle. Andere Erklärungsversuche sind weniger radikal und anerkennen durchaus, dass sie unvollständig sind, behaupten aber mitunter, wenn man nur lange genug an der Erklärung weiterarbeitet, mehr forscht, mehr analysiert, wird man am Ende die durchaus Gesamtheit beschreiben können.

 


Meines Erachtens scheitern aber alle derartigen Versuche. Wieso? Und noch wichtiger: Wieso ist es für unseren eigenen Weg (die Motivation des Schamanen!) so wichtig, dass wir die Gesamtheit nicht beschreiben können, dass es keine Theorie, kein Modell und keine Erklärung für alles gibt?

Zuerst, wieso es keine Erklärung von Allem geben kann: Eine Erklärung von Allem würde bedingen, dass wir auch alles wahrnehmen können. Sowohl in unserem eigenen Leben wie auch als Menschheit insgesamt, beobachten wir aber ständig neue Dinge, solche, die wir bisher nicht festgestellt haben. Unsere Theorien und Modelle können wir aber nur auf dem aufbauen, was wir bisher wahrgenommen haben. Jede neue Beobachtung hat das Potential, die bisherigen Theorien und Erklärungsversuche über den Haufen zu werfen. Wir müssen dann neue oder verfeinerte entwickeln, die aber immer nur so lange Gültigkeit haben, bis wir wiederum etwas Neues feststellen, was unserem Erklärungsmodell widerspricht. Da wir aber ständig neue Dinge feststellen, die wir vorher nicht kannten, wissen wir nie, ob wir nun alles wahrgenommen haben oder nicht. Die Wahrscheinlichkeit ist also sehr gross, dass es immer noch etwas hat, und folglich ist auch unsere Erklärung nicht auf Vollständigkeit überprüfbar, denn das nächste, was wir wahrnehmen, könnte immer die Erklärung nichtig machen.

Was ist aber, wenn wir sehr lange nichts Neues wahrgenommen haben? Können wir dann sicher sein? Nein, sogar wenn wir hunderte, tausende von Jahren nichts Neues wahrnehmen, heisst nicht, dass wir nicht plötzlich genau die Beobachtung machen, welche unser Erklärungsmodell unstimmig macht.

Kurz: Wir können nie wissen, ob es nicht noch eine weitere Beobachtung gibt, die wir noch nicht gemacht haben. Folglich können unsere Erklärungsversuche und Modelle nie vollständig sein. Oder sogar wenn sie es wären, wüssten wir es nicht, ja, wir könnten es gar nicht wissen.

Was heisst dies nun? Wir müssen davon ausgehen, dass alle Erklärungsversuche unvollständig sind. Bestenfalls erklären sie alle bisherigen Beobachtungen, aber wir haben nie eine Garantie, dass sie auch zukünftige erklären. Aber meistens erläutern die Modelle, welche wir antreffen, nicht einmal alle bestehenden Beobachtungen vollständig.

Also: Religionen sind unvollständig, die Wissenschaft ist unvollständig, alle Philosophien sind unvollständig…

Vergleichen wir es mit einem Berg. In der Landschaft gibt es keinen Ort, von wo wir diesen vollständig aus allen Seiten gleichzeitig anschauen könnten. Wir können immer nur das beschreiben, was wir gerade sehen. Der eine Beobachter wird dann sagen: Dieser Berg besteht aus Gletscher und Felswänden, ein anderer sieht aber Wald, ein dritter Felsbrocken und so weiter. Jede Erklärung ist unvollständig, weil keiner den ganzen Berg sieht.

Wieso ist es nun für unseren Weg wichtig, dass jede Erklärung unvollständig ist? Wir leben in einer Welt in der ständig um diese Modelle oder Erklärungsversuche gerungen wird. Die eine Religion behauptet, sie sei richtig und alle anderen falsch. Die Wissenschaft behauptet wiederum, alle Religionen seien falsch und so weiter. Zudem identifizieren wir uns mit unseren Erklärungsversuchen (wir sind Christen, Darwinisten, Atheisten, Freudianer usw.) und grenzen uns von den anderen Erklärungsversuchen ab. Dies kostet uns unglaublich Energie und wir vergessen dabei, dass unser Modell ja genauso unvollständig ist, wie die anderen auch. Und weil sie unvollständig sind, ist es auch nicht verwunderlich, dass sie sich in gewissen Punkten widersprechen. Doch genau wegen diesen Widersprüchen, bekämpfen wir den anderen, manchmal bis aufs Blut.

Diese Energie ist aber verschwendete Energie. Sie hilft unserem Weg kaum, schadet ihm sogar, weil wir diese Energie für unseren Weg nicht mehr zur Verfügung haben. Gehen wir zurück zum Beispiel des Berges. Wollen wir nach oben, dann studieren wir den Berg zuerst, überlegen uns die beste Route und entwickeln Theorien und Modelle, wie wir ihn erklimmen wollen. Unser Nachbar sieht den Berg jedoch aus einem anderen Blickwinkel und gibt lautstark von sich, wie man seines Erachtens besser oben käme und dass unser Weg falsch sei. Und der nächste hat wieder eine andere Theorie. Die Diskussionen fressen die ganze Energie. Was machen?

Wir müssen erstens anerkennen, dass es keine vollständige Theorie gibt. Es gibt keine absoluten Regeln, keine absolut richtigen Vorgehensweisen auch nicht solche, die uns lieb geworden sind. Dies ist unmöglich. Zweitens können wir mit dieser Offenheit nun verschiedene Blickwinkel wahrnehmen, beurteilen welche für unsere unmittelbar nächsten Schritte nützlich sind. Wir können also je nach Situation einen anderen Blickwinkel und demnach ein anderes Modell oder eine andere Erklärung verwenden. Auf unserem eigenen Weg unternehmen wir so immer wieder eine neue Beurteilung und können so durchaus von Blickwinkel zu Blickwinkel, von Modell zu Modell wechseln. Und so gehen wir weiter, Schritt um Schritt.

Konkret: Wenn uns also Zen Buddhismus jetzt hilft, dann folgen wir ihm. Wenn er uns morgen nicht mehr hilft, dann stoppen wir und verwenden ein neues Modell und gehen vielleicht einige Schritte als Wissenschaftler. Das mag uns den Vorwurf der Inkonsequenz einholen. Aber eigentlich ist dies ein Lob – denn Inkonsequenz gehört zum Weg, muss fast zum Weg gehören, denn jede Erklärung, jedes Modell ist lückenhaft und wenn wir wechseln, dann anerkennen wir dies.

Was heisst das jetzt für den Schamanen auf dem Weg zu mehr und mehr Liebe: Wir anerkennen also, dass jeder Erklärungsversuch, jedes Modell und jede Theorie zwar unvollständig ist, aber aus einem klar definierten Blickwinkel heraus durchaus sinnvoll sein kann. Wenn wir unseren Weg gestalten, dann dürfen – sollen wir sogar – ganz viele unterschiedliche Blickwinkel einnehmen. Jeder Blickwinkel, jeder Erklärungsversuch ist somit wie ein Werkzeug aus einer Werkzeugkiste. Es ist nichts falsch – es sind alles immer nur Blickwinkel, die an die konkrete Herausforderung angepasst sind. Wir vermeiden deshalb jeden Kampf um Theorien und Methoden, aber gleichzeitig suchen wir viele unterschiedliche auf, um daraus um daraus für die konkrete Situation die beste zu wählen.

Der Schamane ist also nicht an eine konkrete Philosophie, Religion oder Wissenschaft gebunden. Er anerkennt alle und kann sich so in einer reichhaltigen Umgebung bewegen. Er lässt sich deshalb auch nicht daran messen, ob er nun konsequent ist oder nicht. Er kann also, um ein konkretes Beispiel nehmen, ein Teil seines Weges mit der Vorstellung gehen, es gäbe eine Inkarnation, dann ein weiteres, wo die Seele gar nicht existiert, ein nächstes, wo die Seele aus vielen Teilen besteht, welche sich beim Tod auflösen – und so weiter. Jeder Blickwinkel ist unvollständig, jeder kann aber nützlich für ein bestimmtes Stück seines Weges sein.

Wir müssen uns dabei aber auch den Tücken bewusst sein: Weil die meisten Philosophien solches nicht zulassen, wird diese Inkonsequenz bestraft, der Betreffende wird aus der Gruppe ausgeschieden, ihm werden gewisse Belohnungen verweigert oder Hindernisse aller Art in den Weg gestellt. Dies kann den Schamanen bis ans Äusserste fordern.

Wie gehen wir damit um? Dort wo wir solche Hindernisse antreffen, nehmen wir gleich die Gelegenheit wahr, dank des Hindernisses einen Schritt auf unserem Weg zu gehen. Wir fragen uns: Was können wir lernen? Was können wir heilen? Welche Methode, welcher Blickwinkel, welches Modell können wir hier anwenden?

Zusammengefasst: Schamanen anerkennen, dass es keine vollständigen allumfassenden Theorien, Modelle oder Erklärungsversuche gibt. Alle Religionen, die Wissenschaft, alle Philosophien sind unvollständig. Auf ihrem Weg, lassen Schamanen sich deshalb nicht an eine konkrete Philosophie binden und sie identifizieren sich auch nicht mit einer. Je nach Herausforderung wählen sie das passende Modell, die geeignete Erklärung, als sei es ein Werkzeug aus einer Werkzeugkiste.