„Alles“: Können wir die Gesamtheit erklären?
Um es gleich vorweg zu
nehmen: Nein – so zumindest meine Behauptung – wir können die Gesamtheit, also
„Alles“ nicht erklären. Es ist nicht möglich eine Theorie, ein Modell, eine
Beschreibung oder eine Erklärung zu erarbeiten, welche vollständig ist und
restlos alles erklärt. Nicht, dass es nicht schon unzählige Versuche gegeben hätte:
Die Wissenschaft, die Religion, die Philosophie – alle haben es immer wieder
versucht. Nicht nur haben sie es versucht, oft sind sie sogar vollkommen
überzeugt, die Erklärung für Alles auch gefunden zu haben. Und wenn es noch
irgendwo eine Erklärungslücke gibt, dann platzieren sie einen Gott oder Götter
an diese Stelle. Andere Erklärungsversuche sind weniger radikal und anerkennen
durchaus, dass sie unvollständig sind, behaupten aber mitunter, wenn man nur
lange genug an der Erklärung weiterarbeitet, mehr forscht, mehr analysiert, wird
man am Ende die durchaus Gesamtheit beschreiben können.
Meines Erachtens
scheitern aber alle derartigen Versuche. Wieso? Und noch wichtiger: Wieso ist
es für unseren eigenen Weg (die Motivation des Schamanen!) so wichtig, dass wir
die Gesamtheit nicht beschreiben
können, dass es keine Theorie, kein Modell und keine Erklärung für alles gibt?
Zuerst, wieso es keine
Erklärung von Allem geben kann: Eine Erklärung von Allem würde bedingen, dass
wir auch alles wahrnehmen können. Sowohl in unserem eigenen Leben wie auch als
Menschheit insgesamt, beobachten wir aber ständig neue Dinge, solche, die wir
bisher nicht festgestellt haben. Unsere Theorien und Modelle können wir aber nur
auf dem aufbauen, was wir bisher wahrgenommen haben. Jede neue Beobachtung hat
das Potential, die bisherigen Theorien und Erklärungsversuche über den Haufen
zu werfen. Wir müssen dann neue oder verfeinerte entwickeln, die aber immer nur
so lange Gültigkeit haben, bis wir wiederum etwas Neues feststellen, was
unserem Erklärungsmodell widerspricht. Da wir aber ständig neue Dinge
feststellen, die wir vorher nicht kannten, wissen wir nie, ob wir nun alles
wahrgenommen haben oder nicht. Die Wahrscheinlichkeit ist also sehr gross, dass
es immer noch etwas hat, und folglich ist auch unsere Erklärung nicht auf
Vollständigkeit überprüfbar, denn das nächste, was wir wahrnehmen, könnte immer
die Erklärung nichtig machen.
Was ist aber, wenn wir sehr
lange nichts Neues wahrgenommen haben? Können wir dann sicher sein? Nein, sogar
wenn wir hunderte, tausende von Jahren nichts Neues wahrnehmen, heisst nicht,
dass wir nicht plötzlich genau die Beobachtung machen, welche unser
Erklärungsmodell unstimmig macht.
Kurz: Wir können nie
wissen, ob es nicht noch eine weitere Beobachtung gibt, die wir noch nicht
gemacht haben. Folglich können unsere Erklärungsversuche und Modelle nie
vollständig sein. Oder sogar wenn sie es wären, wüssten wir es nicht, ja, wir
könnten es gar nicht wissen.
Was heisst dies nun?
Wir müssen davon ausgehen, dass alle Erklärungsversuche unvollständig sind.
Bestenfalls erklären sie alle bisherigen Beobachtungen, aber wir haben nie eine
Garantie, dass sie auch zukünftige erklären. Aber meistens erläutern die
Modelle, welche wir antreffen, nicht einmal alle bestehenden Beobachtungen
vollständig.
Also: Religionen sind
unvollständig, die Wissenschaft ist unvollständig, alle Philosophien sind
unvollständig…
Vergleichen wir es mit
einem Berg. In der Landschaft gibt es keinen Ort, von wo wir diesen vollständig
aus allen Seiten gleichzeitig anschauen könnten. Wir können immer nur das
beschreiben, was wir gerade sehen. Der eine Beobachter wird dann sagen: Dieser Berg
besteht aus Gletscher und Felswänden, ein anderer sieht aber Wald, ein dritter
Felsbrocken und so weiter. Jede Erklärung ist unvollständig, weil keiner den
ganzen Berg sieht.
Wieso ist es nun für
unseren Weg wichtig, dass jede Erklärung unvollständig ist? Wir leben in einer
Welt in der ständig um diese Modelle oder Erklärungsversuche gerungen wird. Die
eine Religion behauptet, sie sei richtig und alle anderen falsch. Die
Wissenschaft behauptet wiederum, alle Religionen seien falsch und so weiter. Zudem
identifizieren wir uns mit unseren Erklärungsversuchen (wir sind Christen,
Darwinisten, Atheisten, Freudianer usw.) und grenzen uns von den anderen
Erklärungsversuchen ab. Dies kostet uns unglaublich Energie und wir vergessen
dabei, dass unser Modell ja genauso unvollständig ist, wie die anderen auch. Und
weil sie unvollständig sind, ist es auch nicht verwunderlich, dass sie sich in
gewissen Punkten widersprechen. Doch genau wegen diesen Widersprüchen,
bekämpfen wir den anderen, manchmal bis aufs Blut.
Diese Energie ist aber
verschwendete Energie. Sie hilft unserem Weg kaum, schadet ihm sogar, weil wir
diese Energie für unseren Weg nicht mehr zur Verfügung haben. Gehen wir zurück
zum Beispiel des Berges. Wollen wir nach oben, dann studieren wir den Berg
zuerst, überlegen uns die beste Route und entwickeln Theorien und Modelle, wie
wir ihn erklimmen wollen. Unser Nachbar sieht den Berg jedoch aus einem anderen
Blickwinkel und gibt lautstark von sich, wie man seines Erachtens besser oben
käme und dass unser Weg falsch sei. Und der nächste hat wieder eine andere
Theorie. Die Diskussionen fressen die ganze Energie. Was machen?
Wir müssen erstens anerkennen,
dass es keine vollständige Theorie gibt. Es gibt keine absoluten Regeln, keine
absolut richtigen Vorgehensweisen auch nicht solche, die uns lieb geworden
sind. Dies ist unmöglich. Zweitens können wir mit dieser Offenheit nun verschiedene
Blickwinkel wahrnehmen, beurteilen welche für unsere unmittelbar nächsten
Schritte nützlich sind. Wir können also je nach Situation einen anderen
Blickwinkel und demnach ein anderes Modell oder eine andere Erklärung
verwenden. Auf unserem eigenen Weg unternehmen wir so immer wieder eine neue
Beurteilung und können so durchaus von Blickwinkel zu Blickwinkel, von Modell
zu Modell wechseln. Und so gehen wir weiter, Schritt um Schritt.
Konkret: Wenn uns also
Zen Buddhismus jetzt hilft, dann folgen wir ihm. Wenn er uns morgen nicht mehr
hilft, dann stoppen wir und verwenden ein neues Modell und gehen vielleicht
einige Schritte als Wissenschaftler. Das mag uns den Vorwurf der Inkonsequenz
einholen. Aber eigentlich ist dies ein Lob – denn Inkonsequenz gehört zum Weg,
muss fast zum Weg gehören, denn jede Erklärung, jedes Modell ist lückenhaft und
wenn wir wechseln, dann anerkennen wir dies.
Was heisst das jetzt
für den Schamanen auf dem Weg zu mehr und mehr Liebe: Wir anerkennen also, dass
jeder Erklärungsversuch, jedes Modell und jede Theorie zwar unvollständig ist,
aber aus einem klar definierten Blickwinkel heraus durchaus sinnvoll sein kann.
Wenn wir unseren Weg gestalten, dann dürfen – sollen wir sogar – ganz viele
unterschiedliche Blickwinkel einnehmen. Jeder Blickwinkel, jeder
Erklärungsversuch ist somit wie ein Werkzeug aus einer Werkzeugkiste. Es ist
nichts falsch – es sind alles immer nur Blickwinkel, die an die konkrete
Herausforderung angepasst sind. Wir vermeiden deshalb jeden Kampf um Theorien
und Methoden, aber gleichzeitig suchen wir viele unterschiedliche auf, um
daraus um daraus für die konkrete Situation die beste zu wählen.
Der Schamane ist also
nicht an eine konkrete Philosophie, Religion oder Wissenschaft gebunden. Er
anerkennt alle und kann sich so in einer reichhaltigen Umgebung bewegen. Er
lässt sich deshalb auch nicht daran messen, ob er nun konsequent ist oder
nicht. Er kann also, um ein konkretes Beispiel nehmen, ein Teil seines Weges mit
der Vorstellung gehen, es gäbe eine Inkarnation, dann ein weiteres, wo die
Seele gar nicht existiert, ein nächstes, wo die Seele aus vielen Teilen
besteht, welche sich beim Tod auflösen – und so weiter. Jeder Blickwinkel ist
unvollständig, jeder kann aber nützlich für ein bestimmtes Stück seines Weges
sein.
Wir müssen uns dabei aber
auch den Tücken bewusst sein: Weil die meisten Philosophien solches nicht
zulassen, wird diese Inkonsequenz bestraft, der Betreffende wird aus der Gruppe
ausgeschieden, ihm werden gewisse Belohnungen verweigert oder Hindernisse aller
Art in den Weg gestellt. Dies kann den Schamanen bis ans Äusserste fordern.
Wie gehen wir damit um?
Dort wo wir solche Hindernisse antreffen, nehmen wir gleich die Gelegenheit
wahr, dank des Hindernisses einen Schritt auf unserem Weg zu gehen. Wir fragen
uns: Was können wir lernen? Was können wir heilen? Welche Methode, welcher
Blickwinkel, welches Modell können wir hier anwenden?
Zusammengefasst:
Schamanen anerkennen, dass es keine vollständigen allumfassenden Theorien,
Modelle oder Erklärungsversuche gibt. Alle Religionen, die Wissenschaft, alle
Philosophien sind unvollständig. Auf ihrem Weg, lassen Schamanen sich deshalb
nicht an eine konkrete Philosophie binden und sie identifizieren sich auch
nicht mit einer. Je nach Herausforderung wählen sie das passende Modell, die
geeignete Erklärung, als sei es ein Werkzeug aus einer Werkzeugkiste.