Immer noch herrscht Corona. Nach wie vor sind wir gefordert herauszufinden, was uns an Corona beschäftigt, um daraus Entwicklungsschritte abzuleiten. Dies ist das ständige Bemühen des Schamanen. Dabei sind die Themen für jeden Einzelnen jeweils andere. Für die einen sind es übertriebene Massnahmen, für andere die empfundene Verantwortungslosigkeit der Mitmenschen und Behörden, für gewisse sind es die erschwerten Kontakte zu Freunden, oder die Einsamkeit des Home-Office oder auch die Angst selbst zu erkranken. Immer geht es im Schamanismus also darum, diese Themen zu bestimmen und dank unserer Betroffenheit etwas für unseren Weg zu erkennen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob dies eine allgemein anerkannte Betroffenheit ist oder nicht, sondern es geht immer darum, ob wir uns betroffen fühlen oder nicht. Denn unser Weg ist auch ein eigener, welcher sich von den Wegen aller anderen Menschen unterscheidet. Wir dürfen also niemals unsere konkrete Betroffenheit unter den Tisch wischen, zum Beispiel weil es andere schwieriger haben, weil unsere Gefühle in der Öffentlichkeit nicht thematisiert werden und so weiter. Was wir fühlen zählt also – egal was andere sagen oder denken.
Dies gilt genauso für mich. Ich möchte deshalb ein konkretes Corona-Thema angehen, welches mich in den letzten Monaten stark beschäftigte und aufzeigen, was ich dabei erkannt habe. Es sind dies die geschlossenen Grenzen und die Reisequarantänen. Mir fielen dabei die folgenden beiden Aspekte besonders auf:
Zerstörtes Zuhause: Für Menschen die – wie ich – in verschiedenen Ländern aufgewachsen sind, ist ein Grenzübertritt so etwas wie ein Zuhause. Für solche, die ihre ganze Jugend in einem Land verbracht haben, mag dies zwar wenig plausibel erscheinen, aber so wie die Gleichheit eines Ortes bei den Sesshaften Heimat darstellt, ist der Wechsel dies bei den Grenzüberschreitenden. Das heisst, ich benötige offene Grenzen, damit ich mich zuhause fühle. Interessanterweise ist mir dies erst mit der Grenzschliessung aufgefallen. Vorher hatte ich rund drei Monate eines Jahres ausserhalb der Schweiz verbracht, dies auf vielen geschäftlichen und privaten Reisen, und überquerte ständig Grenzen. Ich war also gewissermassen zuhause. Mit der Grenzschliessung jedoch nicht mehr. Die Grenzschliessungen und die Reisequarantänen haben also meine Heimat zerstört, etwas, was bei mir grosse Betroffenheit auslöste.
Sinnlosigkeit: Zudem empfand ich die Grenzschliessungen als Massnahme gegen Corona völlig sinnlos. Wenn ein Virus auf beiden Seiten einer Grenze vorkommt, dann hilft eine geschlossene Grenze rein gar nichts – im Gegenteil, geschlossene Grenzen können die Bekämpfung des Virus sogar erschweren, weil sich dann in den einzelnen Ländern unterschiedliche Stämme entwickeln können. Zu den Reisequarantänen gab es offenbar sogar Analysepapiere des Bundes, wo deren Sinnlosigkeit attestiert wurde. Die Quarantänen seien aber aus «erzieherischen Gründen» dennoch weitergeführt worden.
Das heisst, mit einer sinnlosen Massnahme, haben die Regierungen mein Zuhause - zumindest vorübergehend - zerstört… So meine erste Wahrnehmung und der Grund meiner Betroffenheit.
Wird etwas zum Thema, dann begegnet man meist vielen weiteren Personen oder Situationen, welche weitere Hinweise geben. So traf ich vermehrt auf Menschen, die ebenfalls in anderen Ländern aufgewachsen waren. Auch versuchte ich im Sommer – immer soweit erlaubt – so oft Grenzen zu passieren, wie dies nur möglich war, damit ich mich selbst dabei beobachten konnte. Zufällig stiess ich sogar auf einen Begriff, welcher Menschen wie mich, beschreibt. Wir sind die sogenannten «Third Culture Kids», also solche, die weder in dieser noch in jener, sondern eben gewissermassen in einer Drittkultur aufgewachsen sind und uns zugehörig fühlen. Interessanterweise hatte ich auch Kontakt mit den genau gegenteiligen Menschen, mit solchen also, die ihr gesamtes Leben am genau gleichen Ort verbrachten.
In den letzten Monaten hörte und erlebte ich Geschichte um Geschichte. In Norditalien verbrachte ein junger Mann in der Nähe der gleichen Kirche wie ich seine erste Nacht im Freien. Er war in Ecuador aufgewachsen und kam als Kind nach Italien. Wir tauschten stundenlang unsere Erlebnisse aus. Eine Frau erzählte mir, wie es war, als Kind vom Kosovo in die Schweiz zu ziehen, eine weitere war in Brasilien und eine in Argentinien aufgewachsen. Manchmal entstand das «Third Culture» Phänomen auch am gleichen geografischen Ort, etwa wenn ein Gebiet das Land wechselte – so wie etwa das Elsass. Auf dem Hartmannsweilerkopf traf ich an einem verregneten Tag ein älteres Paar, deren Grosseltern dort im ersten Weltkrieg gegeneinander gekämpft hatten, der Grossvater des Mannes auf der französischen, der Grossvater der Frau auf der deutschen Seite und deren Eltern im zweiten Weltkrieg ebenfalls auf zwei verschiedenen Seiten kämpften, obwohl sie nur wenige Kilometer voneinander entfernt wohnten. Zur gleichen Zeit beobachtete ich die andere Seite, die wirklich Sesshaften. In einem Dorf in Frankreich erklärte mir ein Mann, den ich auf einem Waldweg traf, er wohne zwar nicht hier, aber er sei hier aufgewachsen, komme nun so oft es gehe hierhin, um Pilze zu suchen, würde an den Wochenenden hier spazieren, aber leider, leider, wohne er nicht hier. Sein Wohnort war aber nur 4 km weit weg und als ich dorthin kam, sah es für meine Begriffe identisch aus. Eine weitere Frau erklärte fast entsetzt, sie kenne sich in einem konkreten Ort überhaupt nicht aus. Auch diese wohnte ebenfalls in einem fast gleich aussehenden Nachbardorf. Dann gab es solche, die nicht einmal diese 4 km weit gezogen waren und seit Generationen, manchmal mit ihrer ganzen Sippschaft am gleichen Ort, an der gleichen Strasse wohnen. Mehreren Menschen konnte ich schöne und beliebte Wege zeigen, welche sie als Einheimische, noch gar nie betreten hatten. Vielleicht, so dachte ich mir, liegt der Hauptunterschied nicht zwischen Menschen einzelner Kulturen, sondern zwischen solchen, die mehrere Kulturen in sich tragen und solchen, die nur eine aufweisen. Der Mann aus Ecuador in Italien war also ähnlich zur Frau, welche im Kosovo aufgewachsen war und der französische Waldgänger war ähnlich zu einem sesshaften Schweizer.
Jedenfalls erkannte ich in all den Geschichten, dass die «Third Culture Kids» eine Kultur für sich sind, egal in welchen unterschiedlichen Ländern sie aufgewachsen sind. Gemeinsamkeiten dieser Kultur sind etwa der wiederholte Verlust von allem (Umgebung, Freunde usw.) oder die Notwendigkeit und die Fähigkeit sich rasch in neue Situationen, Sprachen, Umgangsformen und dergleichen einzudenken und einzufühlen und sich schnell in der lokalen Geografie zurecht zu finden.
Ich liess alle Gespräche und Situationen wirken und erkannte, dass «Third Culture Kids» oft drei Phasen während eines Lebens durchlaufen:
1. Phase, sich an eine Heimat klammern: In der ersten Phase klammern sich die «Third Culture Kids» an eine vermeintliche Heimat, in der sie sich jedoch nicht mehr aufhalten (in meinem Fall war es California). Diese Heimat wird idealisiert. Dass man nicht in dieser Heimat ist, wird der Grund für alles, was schief geht, der Grund für alles Unglück.
2. Phase, überall zuhause sein: In einer zweiten Phase
realisieren die «Third Culture Kids», dass das Klammern an die vermeintliche
Heimat zu nichts führt. Sie sind nicht mehr dort und nun machen sie aus der Not
eine Tugend und werden stolz darauf, überall zuhause zu sein. Bei mir
war das auch so: Immer, wenn ich als erwachsene Person an einen neuen Ort kam
(auch wenn dies nur für kurze Zeit war), wollte ich sofort ganz von dort sein
und erforschte entsprechend die Gegend sehr intensiv. So wollte ich neben
Kalifornier, phasenweise auch Schweizer, Deutscher, Spanier, Italiener, Grieche
und vieles mehr sein.
3. Phase, nirgends zuhause sein: Und schliesslich
gibt es eine dritte Phase, dann, wenn «Third Culture Kids» realisieren, dass
diese Bemühung, überall zuhause zu sein, auch nicht wirklich etwas gebracht
hat. Sie merken: Es ist schlicht nicht möglich, so zu sein, wie ein
Einheimischer, egal wieviel Zeit man an einem Ort verbracht hat. Dies geht
nicht einmal dann, wenn man an den Ort seiner ersten Kindheit zurückkehrt. Deshalb
merken «Third Culture Kids» in der dritten Phase: Man ist überall fremd.
Überall fremd sein. Dies klingt auf den ersten Blick hart, ist aber im Kern eine wertvolle Fähigkeit auf dem eigenen Weg. Ein eigener Weg ist immer neu und in diesem Sinne eben immer fremd. Ist man sowieso überall fremd, hat man es entsprechend leichter, diesen eigenen neuen und deshalb fremden Weg auch zu erkennen. Dort wo wir fremd sind, ist unsere Aufmerksamkeit erhöht, haben wir weniger Vorurteile, sind wir neugieriger, und sehen Dinge, welche ein Einheimischer übersieht. So hart es ist, ein «Third Culture Kid» zu sein, so gewappnet ist man, einen eigenen Weg zu gehen.
Man muss natürlich nicht ein «Third Culture Kid» sein, um überall fremd zu sein. Diese Haltung erlangen auch Menschen wegen anderen Schicksalen oder Lebensformen. So können psychische Störungen, körperliche Gebrechen, sexuelle Orientierungen ebenfalls zu diesem Gefühl führen. Dieses kann auch dann entstehen, wenn man sonst zwischen Kulturen pendelt, etwa zwischen technischen und eher spirituellen Weltanschauungen.
Aber das Grenzthema hatte noch einen weiteren Aspekt: Die Sinnlosigkeit. Während man über Masken und Lockdowns als Massnahmen gegen Corona streiten kann, machen Grenzschliessungen keinen Sinn. Sie zerstören nur. Aber auch die Sinnlosigkeit hat eine tiefere Bedeutung für eigene Wege. Für einen eigenen Weg spielt es keine Rolle, ob die Ereignisse einen Sinn ergeben oder nicht. Sie geschehen einfach. Sie sind. Und wenn sie etwas auslösen, dann gehen wir ihnen nach, sonst nicht. Ob sie für den eigenen Weg relevant sind, wird also daran gemessen, ob sie uns betroffen machen und nicht, ob sie einen Sinn ergeben. Wenn wir dies anerkennen, dann bewerten wir Ereignisse auch nicht mehr. Macht nichts Sinn, dann ist auch nichts gut und nichts schlecht, Ereignisse sind dann weder nützlich noch schädlich. Es geht nur darum, dass wir sie wirken lassen. In dieser Sinnlosigkeit steckt somit ein uraltes Konzept: Achtsamkeit. Wir achten darauf, wie die Dinge auf uns wirken, ohne sie dabei zu bewerten. Dies heisst aber nicht, dass wir nicht liebevoll mit unserer Umgebung umgehen, dass wir nicht unsere Entscheide mit dem Herzen fällen. Beides gehört selbstverständlich nach wie vor zu einem eigenen Weg.
Mein Fazit aus den sinnlosen Grenzschliessungen und Quarantänemassnahmen: Es hilft unserem Weg, wenn für uns alles fremd und sinnlos ist.