Mittwoch, 25. August 2021

Zwischenwelten

Zwischen Vendlincourt, Bonfol, Courtavon und Pfetterhouse – die ersten beiden im Kanton Jura, beiden letzteren im elsässischen Sundgau – liegt ein grosser, sumpfiger, flacher Wald – der Bois Juré. Auf der Seite von Vendlincourt fliesst das Wasser in die Vendline und dann über den Doubs und die Rhone ins Mittelmeer. Auf der Seite von Courtavon in die Largue, welche über den Rhein in die Nordsee fliesst. Nicht nur geht hier eine Landesgrenze durch, sondern es besteht auch eine kontinentale Wasserscheide. Dieser Wald ist aber so flach, dass es über grosse Bereiche unklar ist, wohin das Wasser genau fliesst. Ist man in diesem Wald, so sieht man auch nicht hinaus – keine topografischen Elemente helfen bei der Orientierung. Es ist hier zudem sehr ruhig – der Lärm der menschlichen Zivilisation wird fast gänzlich vom Wald geschluckt. In diesem Wald ist es meist unklar, in welchem Land man gerade ist – z.B. führt eine französische Strasse durch die Schweiz oder Schweizer Wanderwege führen durch Frankreich – auch diese Orientierung funktioniert hier nicht. Zu gewissen Zeiten kam mit Deutschland noch ein weiteres Land hinzu und das Gebiet ist durchsäht mit alten Bunkern, Beobachtungsposten und Schützengräben aller drei Länder – heutzutage als Lehrpfade ausgeschildert, so wie der Circuit du Kilometer 0. Im Jahr 1914 machten hier die Franzosen die Schweizer Grenze zum Anfangspunkt ihrer Front. Damit wurde der Grenzstein 111 zum Kilometer Null der Westfront. Zu dieser Zeit gab es hier zudem ein Streifen Niemandsland. Ein weiteres, allerdings modernes Merkmal des Waldes ist eine Sondermülldeponie der Basler Chemie, welche jedoch mittlerweile saniert ist.

Dieser Wald ist wahrlich ein Gebiet zwischen den Welten. In diesem Forst ist es unklar, ob man nun zum Mittelmeer oder zur Nordsee, zur Schweiz oder zu Frankreich gehört. Hier kann man sich mit nichts identifizieren. In diesem Wald sind wir weder dies noch das, weder hier noch dort. Wir sind nicht ständig daran erinnert, wo und was wir sind. Wir sind hier ohne Identität.

Insgesamt verbrachte ich 11 Nächte in diesem Wald.

Dies ist ein Ort für Schamanen. Dort wo die Identitäten verloren gehen, können wir uns auf Verbindungen konzentrieren und so spüren, wohin es uns wirklich zieht. Hier in dieser Zwischenwelt können wir in Ruhe verstehen, um was es wirklich geht. Was ist real? Was ist Illusion? Hier können wir also erkennen, wo und wie es weitergeht.

Solche Zwischenwelten gibt es natürlich nicht nur im Bois Juré, sondern diese sind überall anzutreffen. Viele Menschen haben diese von Haus aus – sie sind etwa in verschiedenen Ländern aufgewachsen und haben unterschiedliche Kulturen und deshalb solche Zwischenwelten ständig in sich selbst. Andere Menschen sind etwa bei der Arbeit gänzlich anderen Kulturen ausgesetzt als in ihrem familiären Umfeld. Weitere befinden sich zwischen zwei Lebensphasen – haben sich etwa von einem Partner getrennt und sind vorübergehend alleinstehend. Andere stehen zwischen zwei Arbeitsstellen. Diese Zwischenwelten gibt es also immer wieder und überall. Wir müssen sie jedoch wahrnehmen und wertschätzen. Wir müssen die Gelegenheit packen und unsere Identitäten loslassen, uns auf uns selbst besinnen und in Ruhe auf unser Herzen hören. So spüren wir, wohin es als nächstes geht. Und dann wird es plötzlich doch klar, ob wir nun in die Vendline oder in die Largue fliessen…

Aber dieser Zwischenbereich hat auch seine Gefahren: Wir sind hier sehr empfindlich. Potenzielle Angreifer können dies ausnutzen und beispielsweise ihren Müll bei uns deponieren, so wie dies die Basler Chemie in der Deponie tat. Oder die Angreifer versuchen uns davon zu überreden, ihren Weg zu gehen – wie die Berater, Versicherungsvertreter, Missionare und dergleichen, welche uns in diesen empfindlichen Zeiten kontaktieren. Menschen in Zwischenwelten sind anfällig auf solche Angriffe. Wie gehen wir damit um? Wir müssen uns bewusst sein, dass es sie gibt. Wir anerkennen, dass die Zwischenwelt nicht ein geschütztes Refugium ist und wir müssen Kontaktaufnahmen und Hilfeleistungen sehr kritisch hinterfragen. Es geht um uns und nicht um andere. Genauso wie ein Wassertropfen im Bois Juré sorgfältig die natürliche Topografie spüren muss, um nicht durch die Störung der Deponie abgelenkt zu werden. Wir müssen also Störungen als solche anerkennen und dann ignorieren.

Wir können in diesem Wald aber noch mehr erkennen: Auch die Zahlensymbolik unterstützt uns. In der Numerologie symbolisiert die Zahl 111 oft, dass wir auf eine Mitteilung achten müssen, um unser Potential zu erfüllen. Diese Mitteilungen sind oft sehr diskret, so dass wir genau hinschauen müssen. Damit die Mitteilung nicht verfälscht wird, werden wir eine Zeitlang die Null, genauso wie der Grenzstein 111 zum Kilometer 0 deklariert wurde. Hier ist alles aufgelöst und wir haben keine Identität mehr. Die Null symbolisiert die Zwischenwelt sowie ein Neuanfang aus dem Nichts. Auch die 11 Nächte passen. Die Zahl 11 will uns auffordern, die eigenen blinden Flecken zu erkennen. Denn tun wir dies nicht, dann nützen die anderen Zeichen wenig.

Wieso heisst der Wald «Bois Juré»? Übersetzt bedeutet dies «der Wald der Geschworenen», oder einen Ort, wo man schwört beziehungsweise einen Eid ablegt. «Le Juré» heisst auch der Richter. Auch dies gehört zur Zwischenwelt. Dies ist ein Ort, wo man eine Entscheidung fällt und gegenüber sich selbst den Eid ablegt, wirklich seinen Weg zu gehen. Zieht es uns zur Vendline, dann folgen wir ihr danach mit aller Konsequenz, zieht es uns zur Largue, selbstverständlich auch. Interessanterweise gibt es aber noch eine Möglichkeit zur Korrektur – einige Kilometer nördlich vermischen sich die Gewässer im Canal du Rhône au Rhin. Man verspricht sich zwar, den Weg zu folgen, aber so kritisch ist es dann auch wieder nicht – Änderungen sind immer möglich.

Ich landete mehr oder weniger durch Zufall an dieser Stelle. Es war nicht die ursprüngliche Absicht. Aber einmal gefunden, zog es mich immer wieder hin, bis es am Ende 11 Nächte waren. Auch dies war kein Plan – es geschah einfach so. So ist es mit dem Zwischenwelten: Diese entstehen immer wieder und meist ungeplant. Aber sind sie einmal da, dann halten wir inne, anerkennen ihre Bedeutung und geben nicht dem Drang nach, rasch irgendwo anders hinzugehen. 

Sumpfiger Wald bei Bonfol

In eigener Sache: Zum Thema Zwischenwelten werde ich am 20.11.21 in Oberwil bei Zug einen Kurs anbieten. Hier können wir diese Themen gründlich besprechen und Übungen dazu durchführen: oberwilerkurse.