Freitag, 22. Oktober 2021

Das Ende von Kulturen

Wieder gelange ich dank den Kelten zu Erkenntnissen: Ich war in Alaise, einem kleinen Dorf mit kaum 50 Einwohnern im französischen Département Doubs. Auf einer genauen Karte hatte ich in der Nähe einen Ort gesehen, welcher mit «Vestiges Gaulois», gallische Überreste, gekennzeichnet war. Dort wollte ich hin. Dies hätte mich schon unter normalen Umständen interessiert, aber ich hatte zufälligerweise ein paar Tage früher in einem Supermarkt die Zeitschrift «GEO Histoire» zum Thema «Les Gaulois» gekauft und darin gelesen, dass es offenbar eine Kontroverse um den Standort der Schlacht von Alésia gab. An diesem Ort fand im Jahr 52 vor Chr. die Entscheidungsschlacht zwischen den Römern unter Gaius Iulius Caesar und den Galliern unter der Führung des Vercingetorix statt. Letzterer hatte die verschiedenen keltischen Stämme in Gallien vereinen können, um die Römer aus Gallien zu vertreiben. Dies gelang Vercingetorix jedoch nicht. Er verlor die Schlacht und dank des Sieges der Römer, konnten diese ihre Herrschaft in Frankreich für die nächsten Jahrhunderte festigen. Kurz: In Alésia vereinten sich die gallischen Stämme ein letztes Mal, verloren jedoch, und dies führte zum Ende der keltischen Kultur in Gallien.

Aber wo fand diese Schlacht genau statt? Die allermeisten Archäologen und Historiker tippen auf Alise-Sainte-Reine in der Bourgogne – dort stehen auch Denkmäler, Touristenzentren, Museen und dergleichen. Aber nicht alle Experten teilen diese Ansicht. Einige weitere Standorte sind in Diskussion. Darunter genau das Alaise, wo ich mich gerade befand.

Ein alter verwitterter Wegweiser zeigte zum Standort. Unterwegs war ich genau auf der Nebelgrenze, was zu speziellen Lichtspielen der Sonne in den Bäumen führte. Es war aber nicht nur Idylle: In der Ferne hörte ich Motorsägen und just als ich an einem Hügel vorbeikam – später identifizierte ich diesen als ein keltischer Grabhügel – hörte ich, wie ein gefällter Baum zu Boden krachte. Ich erinnerte mich: Eine Strategie der Römer war, die Bäume in den heiligen Hainen der Kelten zu fällen, um so diesem Volk ihre spirituelle Grundlage zu rauben. Wie als Bestätigung dieser Idee folgten Stapeln von gefällten Fichten auf beiden Seiten des Weges, bevor ich zu den keltischen Überresten kam.

Und diese übertrafen alle Erwartungen: Deutlich konnte man die Befestigungsmauern erkennen, wie auch die Umrisse von Häusern und eine Strasse samt Randsteinen. Alles war mit dichten Schichten von Moos überdeckt. Die ganze Siedlung erstreckte sich über 1.5 km, auch wenn heute die Häuser nur noch in einem Teil gut sichtbar sind. Ausser mir, war da niemand. Die Siedlung war gleich oberhalb einer Felswand (Alaise kommt von einem keltischen Wort für Felswand), aber weil ich immer noch gleich an der Nebelgrenze stand, sah ich unter mir nichts als weiss. An einer Stelle ging ein alter Pfad – heute als Wanderweg ausgeschildert – einige hundert Meter nach unten zum Fluss Lison (keltisch für «kleiner Fluss»). Auf meiner ganzen Reise hatte ich immer gehofft, dass ich an einer Stelle ein Wanderwegzeichen am Boden finden würde, welches ich als Andenken mitnehmen könnte. Und genau hier fand ich das für das Département Doubs typische gelb-hellblaue Zeichen auf weissem Grund.

Dieser einsame Ort war auch genau richtig, um die Stimmung der alten Kelten zu spüren. Wieso hatten die Kelten die Schlacht um Gallien nicht gewonnen? Sie hatten den Heimvorteil. Sie hätten die Römer aus dem Hinterhalt oder mit Terrorattacken sicher besiegen können. Solches gelang dieses Jahr auch den Taliban oder vor 50 Jahren den Vietcong. Klar waren die keltischen Stämme unter sich auch nicht immer gut zu sprechen, was die Römer zu nutzen wussten. Aber diese Erklärung befriedigte mich nicht: Ich konnte nicht wirklich verstehen, wieso die Kelten die Gallierkriege nicht gewonnen hatten. Während ich darüber sinnierte, sah ich vor mir einen Pilz. Es wurde mir klar: Würde ich Pilze verstehen, dann würde ich auch den Niedergang der Kelten verstehen.

Pilze? Das, was wir als Pilz gemeinhin erkennen ist nur der Fruchtkörper, welcher nur das Fortpflanzungsorgan des im Boden sonst verbreiteten Myzels ist. Der Fruchtkörper besteht aus miteinander verwachsenen Hyphen, welche die Sporen bilden. Damit die Sporen verbreitet werden, locken die Fruchtkörper gewisser Pilze zum Beispiel mit Gerüchen Tiere an, welche den Pilz berühren oder ihn gar verspeisen, um auf diese Weise die Sporen zu verbreiten. Auch wenn dabei der Fruchtkörper eingeht, überlebt der Pilz als Ganzes oder kann sich an neuen Standorten aus den Sporen spriessen.

Genau dies hat Vercingetorix auch gemacht: Er hat die verschiedenen Keltenstämme (die Hyphen) vereint, ein Heer gebildet (der Fruchtkörper), welches Caesar anlockte aber Vercingetorix und die Kelten sind dabei eingegangen. Während Caesar die Keltenstämme eroberte, beschrieb er sie gleichzeitig genaustens. Ohne ihn, wüssten wir fast nichts über diese Kultur, denn die Kelten selbst schrieben grundsätzlich fast nichts auf. Auf diese Weise sind die Kelten zwar untergegangen, aber ihre Ideen und Philosophien sind dank Caesar immer noch bekannt. Könnte es nun sein, dass die Gallier gar nicht gewinnen wollten? Könnte es sein, dass sie wussten, dass ihre Zeit abgelaufen war? Wollten sie deshalb alles noch einmal zusammenbringen und mit der verlorenen Schlacht erreichen, dass einige ihrer Ideen weiterlebten?  

Dieses Phänomen gab es nicht nur bei den Kelten: Auch die Etrusker wussten, dass ihre Kultur nach 1000 Jahren fertig sein würde und genauso unplausibel verloren sie danach Stadt um Stadt an die Römer. Dabei nahmen die Römer viele etruskische Elemente in ihre Kultur auf und diese lebten so weiter. Weitere Beispiele: Die nordamerikanischen Indianerkultur wurden von den Europäern mehr oder weniger vernichtet, doch dank dieser Einverleibung wissen wir heute viel über sie. Und ist es nicht bei den Tibetern auch so? Wäre der Dalai Lama nicht nach Indien geflohen, wüssten wir viel weniger über den tibetischen Buddhismus. Hypothese: Vor ihrem Niedergang versuchen gewisse Kulturen möglichst viele Elemente zusammenzubringen und lassen sich dann gewissermassen aufessen. Auf diese Art lebt ein Teil ihrer Kultur weiter, auch wenn sie selbst eingehen.  

Gedankensprung: Uns als einzelne Menschen geht es doch genauso: Auch bei uns geht es wohl darum, unsere Verbindungen zusammenzubringen bevor wir sterben. Dies wollte mir das Wanderwegzeichen zeigen: Hier wurde symbolisch das dritte Chakra (gelb, Solarplexus) mit dem fünften Chakra (hellblau) im Herzen (weisser Hintergrund) zusammengebracht. Die Chakren sind die Orte, wo wir über die spirituelle Welt mit Anderem verbunden sind. Bringt man diese Chakren zusammen, geht man in Weiss beziehungsweise in Liebe auf. Genauso wie das Weiss des Nebels oberhalb der Felswand von Alaise.

Ob Kultur oder Einzelperson: Wir müssen die Dinge zusammenbringen (und nicht gegeneinander ausspielen), dabei etwas Neues sprich uns selbst werden und dann Sporen bilden. Diese Sporen können weiterleben, während wir gleichzeitig akzeptieren, dass wir als Einheit einem Ende entgegensteuern. Wir sind also die Fruchtkörper unserer Verbindungen. Lassen wir das zu.

 


Nächste Kurse:

Schamanische Reisen ins eigene Leben, 6. November, 2021, Zürich: Obihaus – Kurse

Schamane zwischen Welten, 20. November, 2021, Oberwil bei Zug: oberwilerkurse