Donnerstag, 9. Dezember 2021

Rache? Oder Abenteuer?

Mittwoch, 1.12: Wegen einem gestrichenen Flug müssen wir bis Ende Jahr einen Flugvoucher einlösen. Wegen technischen Problemen verbringe ich viel Zeit am Telefon mit dem Help Desk. Meine Bemühungen sind erfolglos.

Donnerstag, 2.12: Ich finde doch einen Weg, den Flug zu buchen. Ich freue mich riesig. Der Voucher ist damit nicht einmal vollständig aufgebraucht.

Freitag, 3.12: Berset verkündet neue Corona Massnahmen, wiederum solche, die vor allem Grenzübertritte erschweren. Ausgerechnet einen Tag, nachdem wir gebucht haben! Gut, es geht noch sechs Monate bis zur tatsächlichen Reise – bis dann ist ja vielleicht alles wieder machbar, ein Hoffnungsschimmer besteht also noch.

Aber trotzdem: Wut! Wieso wird immer auf Menschen gezielt, die Grenzen überschreiten wollen? Diese werden viel mehr schikaniert als solche, die sich im Inland bewegen. Mit dieser Wut kommen Rachegelüste auf: Wie könnte man sich rächen, ob dem Leid, welches durch die Massnahmen verursacht wird? Langsam habe ich genug! Ich bin wütend und stehe dazu. Aber ich bin auch Schamane. Die Wut zeigt, dass ich ein Thema habe. Es steht also Arbeit bevor.

(Nebenbemerkung: Ob andere Menschen, diese Massnahme ebenfalls als Leid verursachend empfinden spielt dabei keine Rolle – es ist mein Gefühl. Andere mögen beispielsweise in Wut geraten, weil die Massnahmen zu wenig weit gehen. Das ist ihr Gefühl – und sie können auf die gleiche Art und Weise damit umgehen, wie ich hier beschreibe. Der eigentliche Sachverhalt spielt hier kaum eine Rolle.)

Woher kommt meine Wut? Reisebeschränkungen richten sich einseitig gegen Menschen, die in verschiedenen Kulturen zuhause sind – so wie ich – und deshalb Landesgrenzen überschreiten wollen oder sogar müssen. Gleichzeitig nützen solche Massnahmen nichts gegen die Fallzahlen, denn diese sind ja im Ausland meist sogar tiefer. Mit dieser Logik müsste man viel eher die Reisefreiheit innerhalb der Schweiz einschränken. Nein, es macht keinen Sinn, sondern es geht darum – so meine Empfindung - dass Menschen aus tieferen Kasten in der Schweiz diskriminiert werden.

Was meine ich damit? Nimmt man die zwei Faktoren «Bürgerrecht» und «Migrationshintergrund» so beobachte ich in der Schweiz folgende Kasten: 1) Zuoberst befinden sich die einheimischen Bürger, welche gleichzeitig einer Insiderorganisation (Zünfte, Ortsbürger, Basler Teig usw.). angehören. 2) Darauf folgen die einheimischen Schweizer Bürger, welche keinen Zugang zu einer Insiderorganisation haben. 3) Einen weiteren Rang tiefer befinden sich die Schweizer Bürger mit Migrationshintergrund (z.B. Eingebürgerte) oder Third Culture Anteilen (d.h. solche die in verschiedenen Ländern aufgewachsen sind, hierzu gehöre ich) 4) Es folgen Einwohner, ohne Schweizer Pass, welche hier aufgewachsen sind (z.B. Secondos) 5) Dann Einwohner ohne Pass, welche hierher migriert sind, 6) Schliesslich Sans Papiers. Natürlich kann man auch andere Kategorien wählen und auch dort werden bestimmte Kategorien von Menschen mit den Massnahmen benachteiligt: Menschen in Wohnungen sind von einer Quarantäne viel mehr betroffen als solche in Einfamilienhäusern, psychisch angeschlagene ebenfalls. Singles haben mehr Mühe als verheiratete. Gleisarbeit mit Maske ist beeinträchtigender als Homeoffice, ÖV-Benützer haben grössere Einschränkungen als Autofahrer, usw. Ich wähle aber die gesellschaftlichen Kasten als mein persönliches Beispiel.

Zu diesen Kasten: Die Massnahmen an der Grenze zielen vor allem auf die Kasten «Schweizer mit Migrationshintergrund» und darunter (Kaste 3-6) ab. Diese Menschen werden an den Pranger gestellt, weil sie verschiedene Kulturen in sich vereinen und deshalb von den oberen beiden Kasten als fremd bezeichnet werden. Und fremd ist böse! Deshalb müssen diese Menschen irgendwie bestraft werden. Und die meisten können sich nicht wehren, weil sie gar kein Stimmrecht haben (Kaste 4-6). Da ich mich zu den tieferen Kasten zähle (Kaste 3), fühle ich mich durch Massnahmen an der Grenze von den oberen beiden Kasten diskriminiert und bestraft. Dies ist der Grund für meine Wut. (Interessanterweise finden die Menschen noch weiter unten als ich – z.B. diejenigen, die kein Schweizer Bürgerrecht haben, ich sei im Verhältnis zu ihnen privilegiert, was natürlich auch stimmt und ich hätte deshalb nichts zu klagen. Aber man findet immer jemanden, dem es schlechter geht.)

Aber eben, gleichzeitig bin ich Schamane. Ich gehe so lange ein Thema an, bis es mich nicht mehr betroffen macht. Ob dann die Massnahmen an der Grenze oder gar das Kastendenken aufgehoben ist, spielt dabei keine Rolle. Ich gebe mir nun ein halbes Jahr Zeit: Kann ich bis dann so weit kommen, dass mich diese Themen nicht mehr betroffen machen? Mein Vorgehen:

1. Die Wut akzeptieren: Ich bin wütend und ich darf wütend sein. Es bringt wenig hier eine Zen Haltung einzunehmen und zu sagen, nein ich darf nicht wütend sein. Gleichzeitig geht es in dieser Phase nicht darum, konkret zu handeln. Ich bin einfach da und ich bin wütend. Dabei spüre ich wie sich Energiereserven öffnen, von denen ich gar nichts wusste.

2. Die Optionen anschauen: Ich muss meine konkreten Möglichkeiten vor Auge halten: Ich kann etwa die Reise nicht antreten, eine Versicherung kaufen usw.  Aber, in diesem Fall ist es wohl meine eigene Heilung die wichtigste Option. Dazu muss ich tief und ehrlich in mich hineingehen. Wieso bin ich so wütend? Wieso will ich eigentlich Rache?

3. Mit dem Herzen entscheiden: Parallel muss ich immer mit dem Herzen entscheiden, was ich konkret mache. Im Moment muss ich keine Entscheidungen fällen – die Reise ist erst in sechs Monaten. Ich kann mich in dieser Zeit voll auf meine Heilung konzentrieren. Mein Herz sagt «ja» zu meiner eigenen Heilung.

4. Umsetzen: Um mich selbst zu heilen, muss ich tief in mich hinein hören. Meine Wut und Rachegefühle kommen nach meiner Empfindung daher, dass ich wahrgenommen werden will. Anderen Kategorien von Betroffenen, etwa der Gastrobranche oder den Pflegenden, wird immer geholfen – diese werden gehört. Die Multikulturellen werden nicht wahrgenommen oder höchstens als «die Bösen». Wo habe ich dies auch schon erlebt? Es braucht hier eine Reise ganz tief in mein Innerstes.

Diesen Kreislauf muss ich nun immer wieder und wieder durchgehen.

Ich erkenne dabei: In einem gewissen Sinne ist dieses Vorgehen sogar die beste Rache von allen. Wenn mich die gesellschaftlichen Kasten und die Grenzschikanen nicht mehr betroffen machen, dann hat das System verloren. Dieses bekommt von mir keine Aufmerksamkeitsenergie mehr und dadurch habe ich es überlistet. Und statt offensichtlicher Rache habe ich nun ein Abenteuer…

Montag, 6.12.21: Mit dem übrig gebliebenen Geld buche ich einen weiteren Flug für den Herbst.

 

Grenzzaun zwischen Italien und der Schweiz am südlichsten Punkt der Schweiz. Am Tag, als der Grenzübertritt erschwert wurde, fand ich diese Öffnung im Zaun. Blick von Italien in die Schweiz.

Die neuen Kurse für 2022 sind hier: Angebot | jakoboertli.ch