Seit dem letzten Blog sind schon einige Monate vergangen. Der Grund: Ich arbeite an einem neuen Buch, welches den grössten Teil meiner Schreibkapazität beansprucht. Aber ab und zu packt es mich trotzdem – dieses Mal wegen existentiellen Themen.
Ich war in der Franche-Comté unterwegs, einem Gebiet in Frankreich voller farn- und moosbestückten Schluchten, wunderbaren Wasserfällen, überall Quellen, manchmal ganz in blau und manchmal als ganze Flüsse aus den Felsen strömend, mit einer Höhle nach der anderen und vor allem viel Regen, unaufhörlicher Regen mit Nebel zwischen den Felsen und in den Schluchten. Ich verbrachte dieses Jahr fast sieben Wochen in diesem Gebiet, sehr oft mit dem Schirm wandernd und meist, ohne eine andere Person anzutreffen.
Dabei war die Verbundenheit mit der Natur sehr intensiv. Das war mein Ding. Nur: Zecken! Auf einer Reise hatte ich 10 Stück und eine führte zu einer Borreliose. Und auch jetzt warte ich darauf, ob nicht ein Zeckenbiss wieder zu einem roten Ring führt. Ich wollte mich verbinden, ich wollte mich voll und ganz in die Natur begeben, aber dass diese kleinen Tiere störten, verwirrte mich und brachte mich nach jedem Biss in eine existentielle Krise. Ich wusste zwar: Wenn sie rechtzeitig behandelt wird, führt eine Borreliose nicht in den Tod. Trotzdem zeigte mir jeder Biss meine Vergänglichkeit.
Wir alle kommen einmal an ein Ende, an einen Punkt, wo es „uns“ nicht mehr gibt. Dies kann unvermittelt und plötzlich geschehen, es kann aber auch lange dauern und fast angekündigt geschehen. Diejenigen, die sich ihr eigenes Ende vor Augen halten, sagen oft, dass ihr Leben dadurch an Qualität gewinnt. Dass ihnen dabei bewusstwird, wie jeder Moment kostbar ist und dass es darum geht, nichts zu bereuen. Es gibt wohl nichts, was so stark zum Leben führt, wie der Tod. Ein Schamane lässt sich deshalb immer vom Tod begleiten.
So viel ist noch schnell einmal klar, zumindest für diejenigen, welche sich wagen, dem Tod in die Augen zu sehen. Ich möchte aber etwas weiter gehen. Es gibt mehr, als nur jeden Moment als kostbar anzuschauen. In einem weiteren Schritt gilt es, vor dem eigentlichen Tod zu sterben. Wir holen dabei also gewissermassen den Tod vor.
Wieso? Was bei unserem Tod stirbt, sind unsere Identitäten, das heisst unser Körper und alles, womit wir uns im Verlauf des Lebens identifiziert haben. Beim Tod verlieren wir also nicht nur unseren Körper, sondern auch unser Geschlecht, unsere Nationalität, unsere Rasse, unseren Beruf, unseren Zivilstand, unsere Vereinszugehörigkeit, unsere Hobbys, unseren Charakter, unsere Interessen – all diese Dinge sterben mit uns. Was hingegen nicht verloren geht, ist die Verbundenheit, welche wir mit Anderen und Anderem gespürt haben. Diese Verbundenheit bleibt.
Wenn wir nun vor unserem Tod sterben, so geht es darum, diese Identitäten bereits dann loszulassen, bevor dies mit unserem Tod unweigerlich von selbst geschieht. Das heisst, wir versuchen unsere Identifikation mit unserem Geschlecht, Nationalität, Rasse, Beruf und so weiter wegzugeben, so dass wir möglichst keine Identitäten mehr haben. Die freiwerdende Kapazität verwenden wir dann dazu, uns möglichst mit anderen Menschen, aber auch mit der Natur, mit den Steinen, den Sternen und allem, was es gibt, zu verbinden.
Mit diesem Gedanken, die neuste Zecke vor ein paar Stunden entfernt, wanderte ich zu einem einsamen Wasserfall in der Nähe von Ornans, genannt Cascade de Vaux. Dieser ergoss sich wunderschön in ein Becken, umringt von Farn und Moos – fast paradiesisch schön. Damit das Wasser jedoch diesen wunderbaren Wasserfall bilden konnte, musste es oberhalb des Falls das Bachbett loslassen. Das Wasser darf dort keinen sanft fliessenden Bach mehr sein – es muss also seine Identität als solchen verabschieden – sonst gibt es keinen Wasserfall. Und unterhalb des Wasserfalls ist das Wasser kein Wasserfall mehr, sondern ein Tümpel. Auch hier muss die Identität als Wasserfall weggegeben werden. Ständig werden also Identitäten losgelassen. Und später, das wusste ich, würde der Bach in einen Fluss münden und dieser ins Meer. Dieses ständige Loslassen würde weiter gehen. Ja, und vorher war das Wasser Regen, noch vorher eine Wolke und noch vorher Meer. Die Form geht immer verloren, die Verbundenheit mit anderem Wasser, mit der Erde, der Sonne bleibt aber bestehen. So wollte ich auch werden!
Mit diesem Gedanken sah ich, dass auf den Felsen neben dem Wasserfall die Vegetation die Form eines Herzens hatte. Ja, die Verbundenheit war Liebe. Das Loslassen der Identitäten geschieht in Liebe. Alles schön und gut, nur durfte man dabei den Alltag nicht verpassen – oder besser gesagt, das Loslassen geht über die ganz gewöhnlichen Themen des Alltags. Dies wurde durch den nächsten Wasserfall deutlich: Dieser hiess nämlich «Petite Pisse»… Die Wanderwegtafel ist jedoch verkehrt aufgehängt – das Sterben vor dem Tod entspricht nicht unserem üblichen Vorgehen, wo es in der Regel darum geht, unsere Identitäten zu fördern. Genauso die Symbolik des darunter aufgehängten im Département Doubs üblichen Wanderwegzeichen – die umgekehrte Flagge der Ukraine. Auch bei Kriegen geht es um Identitäten. Aber das Loslassen der Identitäten bringt durchaus Glück, denn nach der «Petite Pisse» kam ich an eine unerwartet sonnige Stelle, wo ganz viele Marienkäfer auf mir landeten…
Also, so unangenehm die Geschichte mit den Zecken, so deutlich deren Mitteilung: «Sterbe bereits jetzt und verbinde dich in Liebe. Lasse die Identitäten los und spüre die Verbundenheit mit allem.»
Wegweiser zum Wasserfall «Petite Pisse».
Die nächsten Kurse:
Die schamanische Reise: Samstag, 26. November, Oberwiler Kurse, oberwilerkurse