Donnerstag, 13. Oktober 2022

Vor dem Tod sterben

Seit dem letzten Blog sind schon einige Monate vergangen. Der Grund: Ich arbeite an einem neuen Buch, welches den grössten Teil meiner Schreibkapazität beansprucht. Aber ab und zu packt es mich trotzdem – dieses Mal wegen existentiellen Themen.

Ich war in der Franche-Comté unterwegs, einem Gebiet in Frankreich voller farn- und moosbestückten Schluchten, wunderbaren Wasserfällen, überall Quellen, manchmal ganz in blau und manchmal als ganze Flüsse aus den Felsen strömend, mit einer Höhle nach der anderen und vor allem viel Regen, unaufhörlicher Regen mit Nebel zwischen den Felsen und in den Schluchten. Ich verbrachte dieses Jahr fast sieben Wochen in diesem Gebiet, sehr oft mit dem Schirm wandernd und meist, ohne eine andere Person anzutreffen.

Dabei war die Verbundenheit mit der Natur sehr intensiv. Das war mein Ding. Nur: Zecken! Auf einer Reise hatte ich 10 Stück und eine führte zu einer Borreliose. Und auch jetzt warte ich darauf, ob nicht ein Zeckenbiss wieder zu einem roten Ring führt. Ich wollte mich verbinden, ich wollte mich voll und ganz in die Natur begeben, aber dass diese kleinen Tiere störten, verwirrte mich und brachte mich nach jedem Biss in eine existentielle Krise. Ich wusste zwar: Wenn sie rechtzeitig behandelt wird, führt eine Borreliose nicht in den Tod. Trotzdem zeigte mir jeder Biss meine Vergänglichkeit.   

Wir alle kommen einmal an ein Ende, an einen Punkt, wo es „uns“ nicht mehr gibt. Dies kann unvermittelt und plötzlich geschehen, es kann aber auch lange dauern und fast angekündigt geschehen. Diejenigen, die sich ihr eigenes Ende vor Augen halten, sagen oft, dass ihr Leben dadurch an Qualität gewinnt. Dass ihnen dabei bewusstwird, wie jeder Moment kostbar ist und dass es darum geht, nichts zu bereuen. Es gibt wohl nichts, was so stark zum Leben führt, wie der Tod. Ein Schamane lässt sich deshalb immer vom Tod begleiten.

So viel ist noch schnell einmal klar, zumindest für diejenigen, welche sich wagen, dem Tod in die Augen zu sehen. Ich möchte aber etwas weiter gehen. Es gibt mehr, als nur jeden Moment als kostbar anzuschauen. In einem weiteren Schritt gilt es, vor dem eigentlichen Tod zu sterben. Wir holen dabei also gewissermassen den Tod vor.

Wieso? Was bei unserem Tod stirbt, sind unsere Identitäten, das heisst unser Körper und alles, womit wir uns im Verlauf des Lebens identifiziert haben. Beim Tod verlieren wir also nicht nur unseren Körper, sondern auch unser Geschlecht, unsere Nationalität, unsere Rasse, unseren Beruf, unseren Zivilstand, unsere Vereinszugehörigkeit, unsere Hobbys, unseren Charakter, unsere Interessen – all diese Dinge sterben mit uns. Was hingegen nicht verloren geht, ist die Verbundenheit, welche wir mit Anderen und Anderem gespürt haben. Diese Verbundenheit bleibt.

Wenn wir nun vor unserem Tod sterben, so geht es darum, diese Identitäten bereits dann loszulassen, bevor dies mit unserem Tod unweigerlich von selbst geschieht. Das heisst, wir versuchen unsere Identifikation mit unserem Geschlecht, Nationalität, Rasse, Beruf und so weiter wegzugeben, so dass wir möglichst keine Identitäten mehr haben. Die freiwerdende Kapazität verwenden wir dann dazu, uns möglichst mit anderen Menschen, aber auch mit der Natur, mit den Steinen, den Sternen und allem, was es gibt, zu verbinden.

Mit diesem Gedanken, die neuste Zecke vor ein paar Stunden entfernt, wanderte ich zu einem einsamen Wasserfall in der Nähe von Ornans, genannt Cascade de Vaux. Dieser ergoss sich wunderschön in ein Becken, umringt von Farn und Moos – fast paradiesisch schön. Damit das Wasser jedoch diesen wunderbaren Wasserfall bilden konnte, musste es oberhalb des Falls das Bachbett loslassen. Das Wasser darf dort keinen sanft fliessenden Bach mehr sein – es muss also seine Identität als solchen verabschieden – sonst gibt es keinen Wasserfall. Und unterhalb des Wasserfalls ist das Wasser kein Wasserfall mehr, sondern ein Tümpel. Auch hier muss die Identität als Wasserfall weggegeben werden. Ständig werden also Identitäten losgelassen. Und später, das wusste ich, würde der Bach in einen Fluss münden und dieser ins Meer. Dieses ständige Loslassen würde weiter gehen. Ja, und vorher war das Wasser Regen, noch vorher eine Wolke und noch vorher Meer. Die Form geht immer verloren, die Verbundenheit mit anderem Wasser, mit der Erde, der Sonne bleibt aber bestehen. So wollte ich auch werden!

Mit diesem Gedanken sah ich, dass auf den Felsen neben dem Wasserfall die Vegetation die Form eines Herzens hatte. Ja, die Verbundenheit war Liebe. Das Loslassen der Identitäten geschieht in Liebe.  Alles schön und gut, nur durfte man dabei den Alltag nicht verpassen – oder besser gesagt, das Loslassen geht über die ganz gewöhnlichen Themen des Alltags. Dies wurde durch den nächsten Wasserfall deutlich: Dieser hiess nämlich «Petite Pisse»… Die Wanderwegtafel ist jedoch verkehrt aufgehängt – das Sterben vor dem Tod entspricht nicht unserem üblichen Vorgehen, wo es in der Regel darum geht, unsere Identitäten zu fördern. Genauso die Symbolik des darunter aufgehängten im Département Doubs üblichen Wanderwegzeichen – die umgekehrte Flagge der Ukraine. Auch bei Kriegen geht es um Identitäten. Aber das Loslassen der Identitäten bringt durchaus Glück, denn nach der «Petite Pisse» kam ich an eine unerwartet sonnige Stelle, wo ganz viele Marienkäfer auf mir landeten…

Also, so unangenehm die Geschichte mit den Zecken, so deutlich deren Mitteilung: «Sterbe bereits jetzt und verbinde dich in Liebe. Lasse die Identitäten los und spüre die Verbundenheit mit allem.»

 

 Wasserfall: Cascade de Vaux, die herzförmige Vegetation befindet sich links vom Wasserfall.                       

                             

Wegweiser zum Wasserfall «Petite Pisse».  

Die nächsten Kurse:

Die Reise zu sich selbst: Samstag, 12. November, Obi Haus Zürich: Obihaus – Kurse
Die schamanische Reise: Samstag, 26. November, Oberwiler Kurse, oberwilerkurse

Sonntag, 13. März 2022

Erkenntnisse aus dem Krieg

Kaum ist Corona vorbei (vermeintlich), kommt die nächste Krise: Krieg in der Ukraine. Wie geht der Schamane damit um? Ein Ansatz ist immer: Alles, was ich im Aussen beobachte, gibt es auch in mir selbst. Das heisst, auch der Krieg, oder besser gesagt, diejenigen Aspekte des Krieges, die mich betroffen machen, habe ich auch in mir. Der Krieg ist also eine gute Gelegenheit, Gesichtspunkte von mir zu analysieren, heilen und verbessern. Hier eine Liste von Elementen des Krieges, welche mich betroffen machen, welche Erkenntnisse ich daraus ziehe und welche Fragen sich für meine persönliche Entwicklung daraus ableiten lasse – dies als Inspiration, es auch so zu tun. Wie immer bei solchen Interpretationen, muss ich betonen, dass es sich um meine Beobachtungen handelt. Andere Menschen haben andere Themen und beobachten und interpretieren die Geschehnisse deshalb auch anders. Übrigens: Eine solche Analyse ist immer auch einen kleinen Beitrag an den Frieden. Wenn die Erkenntnisse aus Ereignissen klar sind und im persönlichen Leben umgesetzt werden, dann müssen die Ereignisse nicht mehr stattfinden oder sie machen einen nicht mehr betroffen.


Beobachtung: Der Krieg macht keinen Sinn. Der Umfang und die Härte entsprechen in keiner Art und Weise den gesteckten Zielen. 

Erkenntnis: Handlungen muss man einem konkreten Thema anpassen.

Frage: Wo sind meine Handlungen nicht angemessen?

 

Beobachtung: Eine Begründung, welche Putin für den Krieg gibt, ist die Befreiung der Ukraine von drogenabhängigen Neonazis, welche die Führung des Landes übernommen hätten. Auch soll die russischsprachige Minderheit erlöst werden. Doch ist ausgerechnet Selensky, der Präsident der Ukraine, russischsprachig und von jüdischer Abstammung. Dass Begründungen selten stimmen, sehe ich auch an vielen anderen Orten, z.B. bei Reorganisationen und Entlassungen, Erklärungen von Ämtern oder im Privaten sind die Gründe, welche mir gegeben werden, kaum stimmig, wenn man sie genauer anschaut.

Erkenntnis: Begründungen, die wir von anderen Menschen oder Organisationen hören stimmen fast nie. Die Begründungen, die wir uns selbst geben, um unser eigenes Verhalten zu rechtfertigen, stimmen meistens genauso wenig. Auch wir lügen uns selbst an. Wollen wir weiterkommen, müssen wir gegenüber uns selbst ehrlich sein.

Frage: Wo bin ich nicht ehrlich zu mir selbst?

 

Beobachtung: Scheinbar will Putin ein Grossrussland oder eine Art Fusion zwischen Russland und der Ukraine erzwingen. Beziehungen lassen sich aber nicht erzwingen. Man mag zwar die Idee haben, dass eine Beziehung gut für den anderen sei, aber wenn dieser nicht will, dann bringt es nichts.

Erkenntnis: Man kann Beziehungen nicht erzwingen. Wollen wir dies, dann zerstören wir dabei mehr, als wir allenfalls gewinnen können. Wir müssen Beziehungen ihren Lauf lassen und wenn der andere nicht will, dies auch akzeptieren.

Frage: Wo versuche ich Beziehungen zu erzwingen?


Begründung: Offenbar hat Putin mehr oder weniger in Isolation seine Idee von Grossrussland entwickelt, allenfalls wurde er von einem engen Vertrauten aufgeschaukelt.

Erkenntnis: Um gut zu entscheiden, müssen wir uns in ein Geflecht von Beziehungen begeben und Widerrede tolerieren, ja sogar willkommen heissen. Nur so sehen wir alle Optionen, die uns zur Verfügung stehen, eine unabdingbare Notwendigkeit, sogar dann, wenn wir mit dem Herzen entscheiden. Ein Herzentscheid funktioniert nur dann, wenn wir auch alle Möglichkeiten wahrgenommen haben.

Frage: Sehe ich alle Optionen, bevor ich mich entscheide?

 

Beobachtung: Der Krieg bedroht unglaublich viele unschuldige Menschenleben. Sehr viele Menschen sind direkt in Lebensgefahr, viele mehr indirekt durch Preiserhöhungen oder Angst vor einem ausgeweiteten Krieg betroffen. Wie es Einzelne trifft, ist unfair und zufällig.

Erkenntnis: Es gibt keine übergeordnete Gerechtigkeit. Äussere Dinge passieren einfach – diese sind selten fair. Ich kann aber immer in meinem Inneren heilen. Diese Freiheit bleibt mir, egal was passiert.

Frage: Wo wehre ich mich gegen die äusseren Ereignisse?

 

Beobachtung: Der Krieg hat die Corona Probleme überdeckt. Er nimmt uns die Chance, die Probleme und Ungereimtheiten aufzuarbeiten.

Erkenntnis: Wir dürfen ein Problem mit einem anderen ersetzen. Das alte Thema muss aufgearbeitet werden, auch wenn das neue dramatischer wirkt.

Frage: Wo habe ich alte Themen nicht vollständig bearbeitet?

 

Beobachtung: Es ist unklar, wie alles herauskommen wird. Wir können zu diesem Zeitpunkt kaum eine Prognose wagen, weder für die Ukraine, für Russland oder ganz konkret für unser eigenes Leben. Alles kann verhältnismässig glimpflich ablaufen oder in einem umfassenden Krieg mit Hungersnöten enden. Als einzelner Mensch können wir dies kaum beeinflussen, aber die innere Bearbeitung bleibt stets eine Möglichkeit.

Erkenntnis: Unsicherheit gehört zum Leben. Wir können aber immer die Gelegenheiten nutzen, unsere inneren Themen anzugehen.

Frage: Bearbeite ich alle meine inneren Themen?

 

Beobachtung: Putin hat ein falsches Bild der Geschichte, welche er als Begründung für den Einmarsch verwendet. Er vergisst Elemente, die nicht dazu gehören und dichtet andere hinzu.

Erkenntnis: Wir haben alle die Tendenz, unsere Geschichte verändert darzustellen. Wollen wir weiterkommen, ist jedoch eine ehrliche Betrachtung notwendig.

Erkenntnis: Nehme ich meine Vergangenheit ehrlich wahr?

 

Beobachtung: Der Westen kritisiert Russland für den unbegründeten und übertriebenen Einmarsch. Ganz ähnliches haben aber die USA im Irak und bereits zahlreiche Male vorher verschuldet. Beispielsweise haben die USA California, Nevada, Arizona, New Mexico, Colorado und Texas von Mexiko erobert oder sonst mit zwielichtigen Mitten angeeignet.

Erkenntnis: Meistens macht man das, was man an anderen kritisiert, selbst auch.

Frage: Was kritisiere ich? Mache ich das Gleiche auch?

 

Beobachtung: Europa nimmt ukrainische Flüchtlinge mit offenen Armen auf. Bei den Flüchtlingen aus Afghanistan oder Syrien war man viel zurückhaltender. Das kommt mir wie Heuchelei vor. Vermutlich werden die Ukrainer offener aufgenommen, weil man den Eindruck hat, sie seien näher verwandt oder ähnlicher, obwohl man durchaus Argumente aufführen könnte, wieso dies nicht so ist.

Erkenntnis: Menschenfreundlichkeit ist oft heuchlerisch.

Frage: Wo und wieso bin ich ein «guter» Mensch?

 

Beobachtung: Das internationale Eisenbahnlärmnetzwerk, welches ich leite, hatte wenige Tage nach dem Kriegsbeginn eine online Sitzung geplant. An dieser Sitzung hätten die russischen Bahnen zum ersten Mal teilgenommen. Sollte man sie nun ausladen oder nicht? Und wenn ja, wie? Ein Dilemma. Der einzelne russische Bahningenieur kann nichts für den Krieg und eine fachliche Besprechung könnte sogar friedensfördernd sein. Doch wurde der Druck der anderen Teilnehmer immer grösser, Russland zu boykottieren und auch ich fand, dass der russische Angriff absolut ungerechtfertigt war. Wegen dem gleichen Dilemma verbot die internationale Bahnorganisation (unter dessen Schirmherrschaft diese Sitzung stattfand) alle Sitzungen gänzlich. Wir organisierten als Folge jedoch eine informelle Sitzung, was dann aber unmittelbar vor der Sitzung wieder überflüssig wurde, weil die Bahnorganisation Russland suspendierte und die Sitzung wieder offiziell, aber ohne Russen, stattfinden konnte. Es war eine stressige Situation, in der ich oft nicht wusste, was machen und immer wieder neu entscheiden musste.

Erkenntnis: Dilemmas und schnell ändernde Situationen gehören zum Leben. Man muss sie aushalten und darin ständig neue Lösungen versuchen.

Frage: Gebe ich meinen Dilemmas genügend Raum und bin ich gewillt immer wieder neue Lösungen auszuprobieren?

 

Beobachtung: Die Farben der ukrainischen Flagge sind hellblau und gelb, diejenigen der russischen weiss, ein dunkleres blau und rot. Umgemünzt auf die Farben der Chakren, heisst dies, dass das Weltbild (dunkelblau) und die Existenz (rot) versuchen die Darstellung (hellblau) und den Standort oder die Gefühle (gelb) zu dominieren. Das Weiss (Herz) ist nicht mehr in der Mitte, sondern auf die Seite gedrängt. Interessanterweise bin ich letzten Herbst in der Franche Comté sehr oft hellblau/gelben Wanderwegzeichen gefolgt (allerdings mit gelb oben), fast wie wenn das Thema damals schon in der Luft gelegen wäre.

Erkenntnis: Die Themen von einzelnen Chakren versuchen andere zu dominieren, anstatt sich im Herzen zu verbinden.

Frage: Wo werden mein Gefühl und meine Darstellung von meinem Weltbild und existentiellen Themen verdrängt. Wie kann ich die Chakren im Herzen verbinden?

 


Wanderweg in der Franche Comté mit gelb/blauem Wanderwegzeichen.

 

Nächster Kurs: 2. April, 2022, Die Schamanische Reise von Anfang an. Ein Kurs für Anfänger und Fortgeschrittene. Oberwiler Kurse: oberwilerkurse