Bescheidenheit ist eine wichtige Qualität unseres eigenen
Weges des Herzens Richtung Liebe. Aber wieso?
Wollen wir unseren eigenen Weg des Herzens gehen, dann
müssen wir diesen zuerst wahrnehmen. Das Fenster zu unserem Weg ist wiederum unser
Herz. Dieses muss offen sein, damit die Liebe, sprich unser Weg,
hineinströmen kann. Wie bei einem Fenster, entsteht nur dann ein Luftzug von aussen nach
innen, wenn der Druck aussen grösser ist als der Druck innen. In
diesem Vergleich ist die Liebe ein Teil des Drucks von aussen, unser materielles
Selbst, unser Ego beziehungsweise unsere Identität oder Form der Druck von
innen. Je nach Druckverhältnis fliesst entweder unser Ego nach Aussen oder die
Welt inklusive der Liebe nach innen. Das heisst, damit wir unseren Weg
wahrnehmen, müssen wir unser materielles Selbst beziehungsweise unser Ego in den Hintergrund stellen.
Oder etwas radikaler ausgedrückt: Wir müssen unsere Bedeutungslosigkeit
anerkennen, also unsere Idee aufgeben, dass wir jemand sind, der wichtig ist. Dies
erreichen wir, indem wir uns in Bescheidenheit üben. Mit Bescheidenheit lässt
der Druck auf der Innenseite des Fensters nach, das Aussen mitsamt der Liebe
strömt in uns und erst dann haben wir eine Chance die nächsten Schritte unseres
Weges wahrzunehmen.
Natürlich – und das ist oben schon angetönt - strömt bei
einem offenen Fenster nicht nur Liebe in uns. Alles, was ausserhalb ist, dringt
in uns hinein. Nach wie vor müssen wir also entscheiden, was von alldem nun zu
unserem Weg gehört und was nicht. Aber zumindest hat der eigene Weg die
Möglichkeit sich bemerkbar zu machen, was er sonst gar nicht hätte. Das
Aussortieren bleibt also. Aber lieber aussortieren und das Gute finden, als
wegen einem zu starkem Ego das Gute gar nicht erst zulassen.
Vielleicht ist ein Vergleich mit Wasser passend: Als Eis
haben wir eine konkrete Form, wir sind jemand, wir haben Status, ein Ego, eine
Individualität. Aber als Eis sind wir auch starr, unbeweglich und
abgegrenzt gegenüber anderen und
anderem. Wenn das Eis hingegen schmilzt und wir flüssiges Wasser werden, wir also
unsere Form beziehungsweise unser Ego aufgeben, dann gibt uns dies die
Beweglichkeit, einen Weg zu gehen. Flüssiges Wasser bewegt sich, Eis nicht.
Flüssiges Wasser hat dafür keine Form, Eis schon – dies also die Gegensätze. Um uns zu bewegen, müssen wir deshalb
den Anspruch aufgeben, dass wir jemand sind. Und hier hilft Bescheidenheit.
Was heisst dies konkret?
Wie leben wir, ohne Identität, gewissermassen, ohne zu existieren? Wir
leben von Herzen und ignorieren dabei alles, was uns normalerweise eine äussere
Form gibt: Wir geben unsere Persönlichkeit, unsere Konditionierung, unsere
kulturelle Prägung, unsere Rollen,
unsere Meinungen, unsere Urteile auf. Sicher, wir müssen nach wie vor einem
Lebensunterhalt nachgehen, müssen uns in der Gesellschaft bewegen und so weiter – und solches
braucht eine Form. Aber die Identitäten, die wir dabei eingehen, sind immer vorübergehend,
etwa wie Kleider, die wir der jeweiligen Situation anpassen. Nie nehmen wir dabei diese
temporäre Form oder Identität ernst.
Bescheidenheit hilft uns demnach, diese äussere Form oder Identität,
unser Ego also, abzustreifen. Deshalb
ist es wohl hilfreich, wenn wir uns ein paar Eigenschaften der Bescheidenheit
vor Augen führen:
Wir akzeptieren Situationen, so wie sie sind, voll und ganz
und ohne jeweils ein Urteil zu fällen. Auf der anderen Seite klagen wir nicht mehr
darüber, wie schlecht es uns geht oder darüber, dass wir Opfer der Umstände
sind.
Wir sind offen gegenüber allem, was uns begegnet. Auf der
anderen Seite beschäftigen wir uns nicht mehr mit unserer Identität und wie wir sie stärken
könnten.
Wir sind dankbar für alles, was wir antreffen. Auf der
anderen Seite lassen wir unsere Besitzgier los, sei dies für Materielles (etwa
ein Haus oder ein Auto) oder für Immaterielles (etwa Lob, Status oder
Anerkennung).
Wir haben keine Ansprüche. Auf der anderen Seite lassen wir
unsere Selbstherrlichkeit und unsere Anspruchshaltung los.
Wir vergeben anderen. Auf der anderen Seite machen wir
niemandem Vorwürfe.
Wir üben uns in Vertrauen. Auf der anderen Seite geben wir
unser Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit auf.
Wir nehmen eine Haltung des Nicht-Wissens ein. Auf der
anderen Seite, lassen wir unser Verständnis der Welt los und akzeptieren, dass
wir stets von anderen lernen können.
Wichtig: Bescheidenheit heisst nun aber nicht, dass wir
uns weniger wichtig oder wertvoll machen als andere oder uns selbst erniedrigen. Wir
suchen also nicht das Gegenteil des Egos, oder wir suchen auch nicht wenig Identität
statt viel Identität, sondern wir sind an einer anderen Stelle, einer wo dies alles gar kein
Thema ist. Mit unserer Bescheidenheit öffnen wir uns für die Liebe –
wir sind dann gewissermassen in einem anderen Raum, einem wo gar nicht erst über Identitätsfragen
gesprochen wird.
Bescheidenheit – ganz im Gegensatz zur allgemeinen Meinung –
ist also keine Schwäche, sondern im Gegenteil, eine Stärke. Es ist sogar eine sehr
wichtige Stärke, welche uns ermöglicht, unseren eigenen Weg wahrzunehmen. Und - nochmals - nur wenn wir ihn wahrnehmen, können wir ihn auch gehen.
Schwebefliege auf einem Buschwindröschen. Bescheidenheit oder nicht?