Samstag, 11. Juni 2016

Ungleichgewichte

Wer wünscht sich das nicht: Harmonie, Ankommen, Gleichgewicht. Alle sprechen davon. Alle wollen dorthin. Auch ich habe davon gesprochen. Aber ist es richtig? Müssten wir vielleicht nicht das Gegenteil anstreben, uns also eher in Ungleichgewichte begeben? Ich möchte hier zeigen, dass Ungleichgewichte wichtig sind, ja, dass es wohl sogar ohne Ungleichgewichte gar nichts gäbe, dass unsere Existenz, unser Weg, unsere Verbindungen untereinander, unsere Seele, unser Körper, dass dies alles nicht existieren würde, hätten wir keine Ungleichgewichte. Und dass wir – wollen wir Liebe werden – uns voll in diese Ungleichgewichte begeben müssen. Wir müssen also Ungleichgewichte suchen, nicht Gleichgewichte. Der Weg der Liebe entspricht so einer Rutschbahn mit ungewissem Ausgang und nicht der Harmonie, des Ankommens oder des Gleichgewichts.
Denken wir hierfür nun alle Ebenen durch und beginnen mit dem Körper: Atmen, Blutkreislauf, Nervenbahnen, Essen, Verdauen, Sinnesorgane – jeder einzelne aller körperlichen Abläufe beruht auf Ungleichgewichten, auf dem Prinzip, dass es an einer Stelle mehr von etwas hat als an einer anderen, und dass dann ein Fluss entsteht, von dort wo es mehr hat zu dort wo es weniger hat. Im Blut hat es beispielsweise an einer Stelle mehr Sauerstoff und dieses wird an die Muskeln abgegeben (mit Hilfe von Ungleichgewichten), wonach im Blut weniger Sauerstoff vorkommt. Dieses wird dann in der Lunge wieder neu angereichert – wieder dank Ungleichgewichten. Nach dem gleichen Prinzip funktionieren auch alle anderen Abläufe im Körper.  
Gehen wir einen Schritt weiter: Auch die Aura als ein Ort der Gefühle benötigt Ungleichgewichte. In einer gesunden Situation ist ein Gefühl etwas, das kommt und geht, gefolgt von einem anderen Gefühl, welches ebenfalls kommt und geht. Damit aber ein bestimmtes Gefühl entstehen kann, muss ein anderes zuerst ab ebnen, es muss gewissermassen eine geringere „Gefühlsdichte“ entstehen, damit sich das neue, stärkere oder dichtere Gefühl bemerkbar machen kann. Dies ist ein klassisches Spiel von Ungleichgewichten. Situationen hingegen, in denen bestimmte Gefühle nicht in diesem Fluss sind, wir also längere Zeit das gleiche Gefühl mit uns tragen, sind genau Zustände, in denen wir auf unserem Weg steckengeblieben sind – eine Depression etwa – nicht gerade wünschenswert. Damit wir uns auf der Ebene der Aura entwickeln können, benötigen wir also Ungleichgewichte. Man kann es auch noch anders sehen: Gefühle sind Zeiger auf unserem Weg. Dank ihnen sehen wir, ob wir uns bewegen (Trauer: Wir verlassen etwas; Angst: Wir gehen auf etwas Neues zu) oder ob wir uns von unserem Weg entfernt haben (Wut: Wir sind zu nah an etwas; Sehnsucht: Wir sind zu weit weg von etwas). Dies funktioniert nur mit Ungleichgewichten. Bewegung oder auch nur schon das Feststellen eines Standortes bedingt Ungleichgewichte: Es gibt Orte, wo wir sind und es gibt Orte, wo wir nicht sind.
Nicht anders sieht es auf der Ebene der Seele aus: Der Aufbau unserer Seele wird stark von unserer Aufmerksamkeit bestimmt. Auf dieser Ebene werden wir gewissermassen das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit lenken. Richten wir unsere Aufmerksamkeit nur auf etwas Einziges – dies wäre der Zustand des Gleichgewichts – dann wird die Seele sehr eingeschränkt (wir sind in diesem Sinne nicht mehr voll und ganz uns selbst). Zudem kann sich die Selle nicht mehr entwickeln, denn ein sich ständig erweiterndes Bewusstsein – ein Merkmal des eigenen Weges – ist nur dann möglich, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf Neues lenken können, was wiederum nur dann funktioniert, wenn anderes in den Hintergrund gerät. Und dies erfordert eben Ungleichgewichte.
Auch die Liebe – die nächste Stufe in dieser Folge – ist ein Fluss und nicht eine statische Angelegenheit. Die Liebe kann aber nur fliessen, falls Orte gibt, wo die Liebe stärker ist, als Orten, wo sie schwächer ist. Und hierfür sind wieder Ungleichgewichte notwendig.
Alle diese Dinge könnten also ohne Ungleichgewichte nicht existieren. Ja, wahrscheinlich kann überhaupt rein gar nichts existieren, gäbe es keine Ungleichgewichte. Oder, umgekehrt gesagt, gäbe es irgendwo ein Gleichgewicht, dann würde sich dort alles auflösen. Immer würde etwas Positives von etwas Negativem aufgelöst. Als mathematischer Vergleich würde immer die Eins die Minuseins, die Zwei die Minuszwei und so weiter auslöschen. So würde eine Zahl um die andere fallen. Entsteht also irgendwo ein Gleichgewicht, würde dieses in der Folge alles andere auslöschen. Diese Ausbreitung des Nichts geschähe wohl rasend schnell – vermutlich sogar mit Lichtgeschwindigkeit… Also: Die Tatsache, dass es Dinge gibt, beweist, dass es Ungleichgewichte hat. Oder, umgekehrt, diese Ungleichgewichte sind notwendig, damit es Dinge gibt.
Denkt man dies nun weiter, könnte man wohl sogar sagen, dass „Ungleichgewicht“ die höchste Stufe überhaupt ist, denn ohne Ungleichgewicht gäbe es gar nichts anders. Existenz (egal von was) bedingt Ungleichgewicht. So gesehen ist die Qualität „Ungleichgewicht“ der Liebe und allem anderen übergeordnet.  
Was heisst dies praktisch? Wollen wir uns in den Fluss der Liebe begeben, dann müssen wir unsere Bestrebung nach Gleichgewicht loslassen. Obwohl wir diese Sehnsucht haben, führt sie nirgends hin. Und finden wir trotzdem ein Ort des vermeintlichen Gleichgewichts, dann ist dieses wohl eine Illusion, eine Art Stau im Fluss der Dinge, analog etwa zu einem Staudamm. Der See hinter dem Damm mag zwar ruhig wirken, ist aber nicht wirklich im Gleichgewicht. Die Ruhe kann nur mit der Kraft des Dammes erhalten werden und früher oder später wird der Damm überspült oder er bricht.
Gleichgewichte, Ankommen, Harmonie sind solche Stauseen. Sie sind Illusionen. Unsere Aufgabe ist es stattdessen, die Staumauern zu erkennen, sie loszulassen und uns ins Ungleichgewicht des Flusses zu wagen. Und wie schon gesagt – daraus folgt eine Reise ins Ungewisse. Und es ist dann unsere eigene Reise, wenn (und das muss immer wieder erwähnt werden) wir unsere Entscheidungen mit dem Herzen fällen.
Also, Harmonie, Ankommen und Gleichgewichte gibt es nicht. Wir suchen sie deshalb nicht, sondern wir müssen uns mit dem Herzen in die Ungleichgewichte begeben. Dann sind wir im Fluss der Liebe, einem Fluss, wo wir nicht wissen, wohin er geht und wohin wir dabei gelangen werden. Vermutlich kommen wir aber nie ins Gleichgewicht, denn würden wir das, dann würden wir uns und damit auch alles andere auflösen. Und dies auf allen Ebenen: Körper, Aura, Seele, Liebe…
 



Alles Fliessen benötigt Ungleichgewichte...
 
 
 
 
 
 

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