Donnerstag, 2. Mai 2024

Verbundenheit als wahre Realität?

Die Source Bleu im Val de Cusance in der Franche-Comté ist eine von Felsen und Wald umgebene Quelle, aus der vom Kalk blau gefärbtes Wasser unter einem Teich hervorquillt. Der Ort ist sehr mystisch und strahlt eine tiefe Ruhe aus. Ganz in der Nähe auf einem hohen Felsen steht eine Kapelle zu Ehren von Saint-Erminfroy, einem Heiligen, dessen Namen „Kämpfer des Friedens“ bedeutet.

Wie so oft, begab ich mich auch diesen April zur Quelle. Allein schon der Besuch versetzt mich jeweils in eine besonders spirituelle Stimmung. Anschliessend wanderte ich entlang des Talrandes durch einen wunderschönen Naturwald voller Orchideen zum Croix du Saint-Erminfroy. Dieser schmale Weg verstärkt jedes Mal meine Spiritualität, obwohl es dieses Jahr besonders kalt und regnerisch war. Auf dem Rückweg besuchte ich die Kapelle, und drinnen schien überraschend das Sonnenlicht durch die Fenster. Es waren notabene die einzigen Sonnenstrahlen des ganzen Tages. Ich empfand dies als Aufforderung besonders wachsam zu sein – irgendwo lag eine Erkenntnis verborgen.

Ich beschloss, die Quelle ein zweites Mal zu besuchen, um sie ganz genau zu beobachten. Dieses Mal bemerkte ich die vielen Wirbel auf, die das hinauffliessende Wasser erzeugte. Inmitten jedes Wirbels entstand jeweils ein Hohlraum. Es gab unzählige solcher Vertiefungen in der Wasseroberfläche, welche sich auf dem Teich bewegten und dann mit der Zeit wieder gefüllt wurden. Die Hohlräume traten manchmal allein auf, manchmal in Gruppen, es gab sowohl grössere als auch kleinere. Mitunter verschmolzen zwei oder mehrere solcher Vertiefungen. Die Lebensdauer der Hohlräume war unterschiedlich; manche „lebten“ länger als andere aber früher oder später „starben“ sie alle.

Diese Vertiefungen kamen mir wie Menschen vor. Sie entstanden im hervorquellenden Wasser, lebten einige Zeit, verschmolzen manchmal mit anderen, bewegten sich in Gruppen oder allein und vergingen schliesslich. Und zwar alle. Nur, diese Vertiefungen waren nur Löcher im Wasser – sie waren also gewissermassen kein Wasser. Obwohl sie vom Wasser umgeben waren, stellten sie nichts Eigenes dar. Diese Vertiefungen existierten nur zum Schein – es waren nur Hohlräume.

Ist es bei uns Menschen auch so? Sind wir in Wirklichkeit nur Hohlräume in einer Umgebung von Verbundenheit? Dies würde nicht nur für uns Menschen so gelten, sondern für alle Gegenstände, seien dies nun Tiere, Steine oder ganze Planeten. Die Dinge wären dann genau umgekehrt von der Art und Weise, wie wir sie uns normalerweise vorstellen: Nicht wir sind etwas, sondern das Dazwischen ist die eigentliche Realität. Das, was wir sehen und üblicherweise als Realität empfinden, wäre nichts anderes als der Hohlraum, der in der Mitte eines Wirbels entsteht.

Ist die Source Bleu also ein Sinnbild dafür, wie die Dinge sind? Es entsteht irgendwo im Universum ständig neues Verbundenheitsmaterial – was auch immer das sein mag. Dieses wirbelt an gewissen Stellen, und in der Mitte solcher Wirbel entstehen Hohlräume. Das, was wir als Menschen, Dinge, Planeten und so weiter betrachten, wären nichts anderes als diese Hohlräume. Das Selbst ist in diesem Sinne eine Illusion, da es nichts anderes ist als ein Hohlraum. Eine sehr buddhistische Vorstellung.

Was wäre die Konsequenz? Wenn wir „Krieger des Friedens“ werden wollen, dann müssen wir die Vorstellung eines Selbst mit einer konkreten Identität loslassen und uns stattdessen auf die Verbundenheit konzentrieren. Auch hat es wenig Sinn, den Gang unseres Wirbels beeinflussen zu wollen – vielmehr geht es darum „unseren“ Wirbel zuzulassen. Dies ist im Kern das, was mit dem Weg des Herzens gemeint ist, den ein „Krieger des Friedens“ verfolgt.

Es bleibt aber eine Frage: Wieso das Blau? Normalerweise ist die Quelle hellblau, aber an diesem Tag hatte sie wegen den starken Regenfällen eine eher milchig-blaue Farbe. Hellblau ist die Farbe des fünften Chakras, welches das Thema „Darstellung“ hat. Ich interpretierte: Unser Selbst ist nur eine Darstellung. Wir sollten es von weiss – der Farbe des Herzens beziehungsweise der Verbundenheit – durchdringen lassen. Sogar die Farbe der Quelle unterstützte die Symbolik...

  


Die Source Bleu im Val de Cusance.

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