Zwischen Wittnau (Aargau), Anwil (Baselland) und Kienberg (Solothurn) treffen drei Kantone zusammen. Bis vor hundert Jahren gab es hier ein Stück Niemandsland, der sogenannte Heimatlosenspitz oder -platz, der zu keinem Kanton, keiner Gemeinde und damit offiziell auch nicht zur Schweiz gehörte. Das dreieckige Gebiet war nicht gross, nur etwa 63 Aren und lag an einem steil abfallenden, dicht bewaldeten Hang. Auf alten Karten wird das Gebiet auch „In der Freiheit“ genannt. Es gibt viele Geschichten und Legenden über den Heimatlosenspitz, beispielsweise wie Landjäger in diesem Gebiet auf Heimatlose schossen oder sie in benachbarte Kantone abschoben. Im Jahre 1931 wurde das Gebiet immer mehr zu einem Dorn im Auge der Beamten – es darf keinen rechtsfreien Raum geben, sei dieser noch so klein und unwegsam! In der Folge wurde das Gebiet zwischen den drei Kantonen aufgeteilt.
So viel zur Geschichte. Da ich mich selbst auch als Heimatloser fühle und keinem Land zugehörig sehe, zog mich der Heimatlosenspitz an. Vielleicht würde ich dort etwas über nationale Identitäten lernen. Hier war ein Gebiet, das mir ähnlich war und welches in der Vergangenheit Personen wie mich anzog. Was würde ich dort spüren oder erkennen? Die Reise und die Wanderung waren voller Zeichen:
Schon im Bus auf die Salhöhe, wo ich die Wanderung startete, stieg in Erlinsbach (interessanterweise eine Ortschaft die auf zwei Kantone – Aargau und Solothurn - verteilt ist und deshalb keine einzelne, sondern zwei Gemeinden sein muss) eine Gruppe von acht- oder neunjährigen Knaben in den Bus. Sie standen zusammen und redeten miteinander – jedoch jeder in einer anderen Sprache. Ich denke nicht, dass sie die Worte der anderen verstanden, aber sie hatten trotzdem ein gutes Einvernehmen. Nach meinem Dafürhalten spürten sie eine Verbundenheit miteinander, welche ihre sprachlichen Identitäten sprengte.
Auf dem Weg nach Anwil begegnete ich immer wieder Rehen, die stets dabei waren über Zäune zu springen. Auf meiner Route zum Heimatlosenspitz war es ähnlich: Ich musste querfeldein durch Wiesen und Wälder gehen und immer wieder über Zäune steigen. Überraschenderweise gab es eine vermoderte Sitzbank an einer Stelle, wo wohl nie jemand hinkommt. Um zur Heimatlosenspitze zu gelangen, musste ich – wie die Wildtiere - viele Hindernisse überwinden und wurde an unerwarteten Orten zur Ruhe und Kontemplation aufgefordert. Dies empfand ich als zwei wichtige Merkmale des Weges eines Menschen in die Freiheit.
Als ich am Heimatlosenspitz ankam, traf ich auf einen unwegsamen, steilen Hang. Mein sofortiger Eindruck war: Hier hätten sich kaum Menschen lange niederlassen können - dieser Ort war keine Stelle, an der jemand den rechtsfreien Raum hätte ausnutzen können. Es gab für mich keinen offensichtlichen Grund, diese „Freiheit“ aufzuheben, ausser, dass sie einfach nicht sein darf. Alles muss zu einer Identität gehören. Alles, was dazwischen ist, gewissermassen die Verbundenheit, muss verschwinden. Ich fand es schade, dass es den Heimatlosenspitz nicht mehr gab. Wäre nicht die Verbundenheit zwischen zwei Orten besser, wenn es Zwischenräume und Freiheit gäbe?
Nach dem Heimatlosenspitz auf dem Weg nach Wittnau sah ich auf der Karte einen Hügel mit dem Namen «Reichsberg». Dieser sah für mich verdächtig nach einem Ort aus, wo die Kelten eine Siedlung haben könnten. Ich wollte dorthin. Auf der Karte gab es jedoch keinen direkten Weg. Interessanterweise gab es in der Realität aber einen ziemlich guten. Dies war für mich erstaunlich, denn Wege mit dieser Qualität waren sonst auf den Karten immer verzeichnet. Ich ging hin, sah einen für keltische Siedlungen typischen Wall aber sonst keine Überreste. Dennoch hatte dieser Ort eine eindeutige keltische Stimmung. Nach der Freiheit oder Heimatlosigkeit gelangte ich in eine andere Epoche, in eine Zeit, in der die Menschen noch eine ganz andere Verbundenheit spürten. Identitäten waren damals wohl weniger wichtig und die Welt auch nicht auf den letzten Zentimeter aufgeteilt.
Später im Bus von Wittnau nach Frick waren wieder Jugendliche unterwegs – diese waren etwas älter, vielleicht 16 – 18-jährig. Auch hier sprach jeder seine eigene Sprache. Auch hier verstanden sie einander bestens. Wieder dachte ich: Verbundenheit ist auch ohne Identität möglich.
Was ich beobachtete und lernte:
Erlinsbach: Identitäten wie Kantone trennen künstlich
das, was zusammengehört. Sie erschweren die Verbundenheit.
Erste Gruppe von Jugendlichen: Auch wenn die
Identitäten verschieden sind, kann man sich verbunden fühlen. Dazu muss man die
Identitäten ignorieren.
Heimatlosenspitz „in der Freiheit“: Man wird frei,
wenn man Identitäten loslässt.
Zäune und verlassene Bank: Auf dem Weg in die
Freiheit muss man viele Hindernisse überwinden, sich aber Zeit zur
Kontemplation nehmen. Dieser Weg ist ein schwieriges Unterfangen.
Gelände am Heimatlosenspitz: Hüter der Identitäten
versuchen Zwischenräume und Verbundenheit zu eliminieren auch dann, wenn es
keinen wirklichen Grund dafür gibt.
Der Reichsberg: Wenn wir die Heimat-
beziehungsweise Identitätslosigkeit wagen, dann kommen wir in eine Zeit oder
einen Raum voller Verbundenheit. Die Wege sind dann nicht mehr kartiert, aber
sie sind vorhanden.
Zweite Gruppe von Jugendlichen: Nachdem wir durch
die Heimatlosigkeit/Freiheit gegangen sind, müssen wir zurück in den Alltag.
Dort verbinden wir uns, möglichst frei von Identitäten.
In unserer Gesellschaft ist es nicht einfach, heimat- und identitätslos zu sein. Unsere Gesellschaft versucht dies auf Schritt und Tritt zu verhindern. Wagt man die Heimat- und Identitätslosigkeit trotzdem, gelangt man in eine Freiheit und Verbundenheit in der plötzlich ungeahnte Pfade und Möglichkeiten entstehen.
Der Heimatlosenplatz in alter und neuer Grenzziehung
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