Haben wir einen freien Willen oder nicht? Dieser Frage bin
ich in letzter Zeit immer wieder begegnet (Dank u.a. an Lea und Jörg). Für die
Philosophie des Schamanismus ist sie kritisch: Ohne freien Willen ist es nicht
möglich, Entscheidungen aus freien Stücken zu fällen, somit können diese auch
nicht mit dem Herzen gefällt werden. Ohne den freien Willen entfällt deshalb die
Hauptmotivation des Schamanen.
Obwohl der Schamane den freien Willen für seine Philosophie benötigt,
gibt es viele Anzeichen dafür, dass es diesen gar nicht gibt. Die Beobachtung
ist diese: Alles, was geschieht hat einen Grund, die Dinge sind also kausal
miteinander verknüpft. Immer wenn wir etwas tun oder etwas geschieht, so
verursacht dies weitere Dinge und umgekehrt sind diese wiederum von anderen
Ereignissen verursacht. Was wir als Entscheidungen mit dem freien Willen
empfinden, sind demnach nichts anderes als chemische und biologische Prozesse
im Gehirn und Nervensystem, welche aufgrund von Inputs unserer Sinnesorgane entstehen.
In anderen Worten haben wir also nur den Eindruck, dass wir frei entscheiden
können, dies ist in Tat und Wahrheit nicht wirklich der Fall. Wahrscheinlich
haben wir diesen Eindruck, weil die Menschheit deshalb einen Selektionsvorteil
hatte. Auch die moderne Physik sieht keinen Raum für einen freien Willen –
keine der Formeln aus der Relativitätstheorie oder Quantentheorie hat ein
Element des freien Willens. Fazit: Alle Dinge geschehen, weil sie einen Grund
haben. Nichts kann frei entschieden werden. Diese Betrachtung der Welt wird oft
„Determinismus“ genannt.
Ist also auch der Eindruck, dass wir einen eigenen Weg des
Herzens haben nichts anderes als eine Illusion? Ich weiss nicht, ob wir
überhaupt in der Lage sind, zu entscheiden, ob wir einen freien Willen haben
oder nicht, aber ich möchte als Diskussionsbeitrag zeigen, dass freier Wille
und Kausalität nicht Gegensätze sein müssen, sondern Qualitäten, sie sich
ergänzen. Danach bestünde jedes Ereignis aus einer Komponente „freier Wille“
und einem Teil „Kausalität“ beziehungsweise „Determinismus“.
Gut lässt sich dies mit einem Koordinatensystem erklären,
welches ein Feld aufbaut (siehe Darstellung unten). Dabei würde eine Achse die
Kausalität oder Determinismus darstellen, die andere den freien Willen. Jedes
Ereignis besteht nun aus einem Teil Kausalität und einem Teil freier Wille. (In
einer mathematischen Analogie, wäre jedes Ereignis ein Vektor mit zwei
Komponenten). Diese Komponenten sind je nach Ereignis verschieden gross. Wenn
etwa ein Gegenstand auf den Boden fällt, so ist wahrscheinlich Kausalität das
wichtigste Element (der Gegenstand wird von der Erdanziehungskraft angezogen –
ein schöner kausaler Zusammenhang). Hingegen ist eine Entscheidung mit dem
Herzen und entgegen aller Logik sich in den Fluss zu begeben, eine die ein
grosses Element „freier Wille“ hat und wohl nur wenig „Kausalität“.
Ob man nun glaubt, es gäbe einen freien Willen oder man denkt
es gäbe ihn nicht, hängt davon ab, wie wir die Dinge in diesem
Koordinatensystem oder Feld sehen. Stellt man etwa ein Weltbild auf in dem man
sich nur auf der Achse Kausalität bewegt, dann erkennt man in der Tat den
freien Willen nicht – dann sieht alles nach Kausalität aus. Man erkennt die
andere Komponente dann gar nicht. Auf der anderen Seite, kann man genauso gut ein
Weltbild aufbauen, in dem es fast nur den freien Willen gibt und nur wenig
Kausalität. Die Diskussion um die Frage des freien Willens wäre demnach eine
Frage der Blickrichtung, welche man in diesem System einnimmt. Erkennt man,
dass dies mit einem Koordinatensystem dargestellt werden kann, so sind der freie Wille und die Kausalität
gleichzeitig möglich.
Beginnt man jedoch so zu denken, dann stellt sich sofort die
Frage, was die Achsen in der umgekehrten Richtung wohl darstellen. Was ist dann das
Gegenteil von Kausalität und was das vom freien Willen? Eine Idee: Das Gegenteil
von Kausalität ist das spontane, zufällige Entstehen von Dingen. Es sind also Ereignisse,
die keinen Grund haben aber auch nicht die Folge einer Entscheidung mit dem
freien Willen sind. Auch der Zufall wäre hier anzusiedeln. Gibt es dies
überhaupt? Unsere Wahrnehmung als Gesellschaft ist nicht darauf getrimmt, aber
vielleicht ist ein Teil der Kunst hier anzusehen oder vielleicht auch das
Unschärfeprinzip in der Physik, wo unklar ist, ob etwas eine Welle oder ein
Partikel ist. Die Gegenrichtung zum freien Willen ist hingegen etwas klarer.
Dort sind meines Erachtens Glaubenssätze, absolute Aussagen, Konzepte und
dergleichen zu suchen.
Jedes Ereignis wie auch alle Philosophien, Religionen und
andere Weltbilder können nun an verschiedenen Orten in diesem Koordinatensystem
oder Feld lokalisiert werden. Nachfolgend einige Beispiele. Zu beachten dabei
ist, dass der Ort, an dem man selbst im System steht, den Blickwinkel auf das
System beeinflusst. Jemand anders würde also die Beispiele allenfalls ganz
anders platzieren. Hier die Beispiele:
Naturwissenschaften:
Die Naturwissenschaften haben ein starkes Element der Kausalität mit einigen
Glaubenssätzen (z.B. die Wissenschaft liefert eine objektive Erklärung).
Gewisse Elemente sind auch auf der Achse des freien Willens z.B. statistische
Verfahren mit Irrtumswahrscheinlichkeiten. Die Naturwissenschaften haben aber durchaus
auch Elemente von spontanem Schaffen, etwa in der Quantenphysik wenn vom zufälligen
Zusammenbruch von Wellen gesprochen wird, um eine bestimmte Realität zu
kreieren.
Religionen: Die
meisten Religionen haben ein starkes Element von Glaubenssätzen (etwa die zehn
Gebote), aber auch viel Kausalität (Gott hat alles erschaffen).
Zen: Nach meinem
Eindruck, will Zen Buddhismus möglichst ins Zentrum des Koordinatensystems, in
eine Leere also, in der weder Kausalität noch freier Wille vorhanden ist. Selbstverständlich
hat Zen oft auch religiöse Elemente mit diversen Glaubenssätzen.
Schamanismus: Nach
meinem Verständnis des Schamanismus, hat dieser ein starkes Element des freien Willens
(die Herz Entscheidung), aber auch Elemente der Kausalität (die eigenen Handlungen
haben Auswirkungen). Schamanismus wird aber auch anders Verstanden: Manchmal
hat er Glaubenssätze oder wenn mit Ritualen bestimmte Ziele erreicht werden
sollen, dann ist Kausalität wichtig.
Kreativität und
Kunst: Das spontane Entstehen von Neuem wird in unserer Gesellschaft am
wenigsten thematisiert. Kreatives Schaffen könnte nun auf der Achse des
spontanen Entstehens sein. Verfechter der Kausalität würden aber sagen, dass
auch Kreativität und Kunst ein Resultat von Hirnströmen ist.
Dies sind wirklich nur Beispiele und Ideen zu diesem System.
Sie sollen dazu anregen, die eigene Position zu finden und besser zu verstehen,
wieso andere Menschen die Dinge anders wahrnehmen und wie dies von ihrem jeweiligen
Standort abhängt.
Zum Schluss noch in eigener Sache: Bald ist es soweit und im
August soll mein neues Buch erscheinen. Weitere Informationen dazu werde ich in
den nächsten Monaten hier aufführen. Aber als Vorgeschmack hier bereits das
Cover.
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