Mittwoch, 29. Mai 2024

Heimatlosenspitz

Zwischen Wittnau (Aargau), Anwil (Baselland) und Kienberg (Solothurn) treffen drei Kantone zusammen. Bis vor hundert Jahren gab es hier ein Stück Niemandsland, der sogenannte Heimatlosenspitz oder -platz, der zu keinem Kanton, keiner Gemeinde und damit offiziell auch nicht zur Schweiz gehörte. Das dreieckige Gebiet war nicht gross, nur etwa 63 Aren und lag an einem steil abfallenden, dicht bewaldeten Hang. Auf alten Karten wird das Gebiet auch „In der Freiheit“ genannt. Es gibt viele Geschichten und Legenden über den Heimatlosenspitz, beispielsweise wie Landjäger in diesem Gebiet auf Heimatlose schossen oder sie in benachbarte Kantone abschoben. Im Jahre 1931 wurde das Gebiet immer mehr zu einem Dorn im Auge der Beamten – es darf keinen rechtsfreien Raum geben, sei dieser noch so klein und unwegsam! In der Folge wurde das Gebiet zwischen den drei Kantonen aufgeteilt.

So viel zur Geschichte. Da ich mich selbst auch als Heimatloser fühle und keinem Land zugehörig sehe, zog mich der Heimatlosenspitz an. Vielleicht würde ich dort etwas über nationale Identitäten lernen. Hier war ein Gebiet, das mir ähnlich war und welches in der Vergangenheit Personen wie mich anzog. Was würde ich dort spüren oder erkennen? Die Reise und die Wanderung waren voller Zeichen:

Schon im Bus auf die Salhöhe, wo ich die Wanderung startete, stieg in Erlinsbach (interessanterweise eine Ortschaft die auf zwei Kantone – Aargau und Solothurn - verteilt ist und deshalb keine einzelne, sondern zwei Gemeinden sein muss) eine Gruppe von acht- oder neunjährigen Knaben in den Bus. Sie standen zusammen und redeten miteinander – jedoch jeder in einer anderen Sprache. Ich denke nicht, dass sie die Worte der anderen verstanden, aber sie hatten trotzdem ein gutes Einvernehmen. Nach meinem Dafürhalten spürten sie eine Verbundenheit miteinander, welche ihre sprachlichen Identitäten sprengte.

Auf dem Weg nach Anwil begegnete ich immer wieder Rehen, die stets dabei waren über Zäune zu springen. Auf meiner Route zum Heimatlosenspitz war es ähnlich: Ich musste querfeldein durch Wiesen und Wälder gehen und immer wieder über Zäune steigen. Überraschenderweise gab es eine vermoderte Sitzbank an einer Stelle, wo wohl nie jemand hinkommt. Um zur Heimatlosenspitze zu gelangen, musste ich – wie die Wildtiere  - viele Hindernisse überwinden und wurde an unerwarteten Orten zur Ruhe und Kontemplation aufgefordert. Dies empfand ich als zwei wichtige Merkmale des Weges eines Menschen in die Freiheit.

Als ich am Heimatlosenspitz ankam, traf ich auf einen unwegsamen, steilen Hang. Mein sofortiger Eindruck war: Hier hätten sich kaum Menschen lange niederlassen können - dieser Ort war keine Stelle, an der jemand den rechtsfreien Raum hätte ausnutzen können. Es gab für mich keinen offensichtlichen Grund, diese „Freiheit“ aufzuheben, ausser, dass sie einfach nicht sein darf. Alles muss zu einer Identität gehören. Alles, was dazwischen ist, gewissermassen die Verbundenheit, muss verschwinden. Ich fand es schade, dass es den Heimatlosenspitz nicht mehr gab. Wäre nicht die Verbundenheit zwischen zwei Orten besser, wenn es Zwischenräume und Freiheit gäbe? 

Nach dem Heimatlosenspitz auf dem Weg nach Wittnau sah ich auf der Karte einen Hügel mit dem Namen «Reichsberg». Dieser sah für mich verdächtig nach einem Ort aus, wo die Kelten eine Siedlung haben könnten. Ich wollte dorthin. Auf der Karte gab es jedoch keinen direkten Weg. Interessanterweise gab es in der Realität aber einen ziemlich guten. Dies war für mich erstaunlich, denn Wege mit dieser Qualität waren sonst auf den Karten immer verzeichnet. Ich ging hin, sah einen für keltische Siedlungen typischen Wall aber sonst keine Überreste. Dennoch hatte dieser Ort eine eindeutige keltische Stimmung. Nach der Freiheit oder Heimatlosigkeit gelangte ich in eine andere Epoche, in eine Zeit, in der die Menschen noch eine ganz andere Verbundenheit spürten. Identitäten waren damals wohl weniger wichtig und die Welt auch nicht auf den letzten Zentimeter aufgeteilt.

Später im Bus von Wittnau nach Frick waren wieder Jugendliche unterwegs – diese waren etwas älter, vielleicht 16 – 18-jährig. Auch hier sprach jeder seine eigene Sprache. Auch hier verstanden sie einander bestens. Wieder dachte ich: Verbundenheit ist auch ohne Identität möglich.

Was ich beobachtete und lernte:

Erlinsbach: Identitäten wie Kantone trennen künstlich das, was zusammengehört. Sie erschweren die Verbundenheit.

Erste Gruppe von Jugendlichen: Auch wenn die Identitäten verschieden sind, kann man sich verbunden fühlen. Dazu muss man die Identitäten ignorieren.

Heimatlosenspitz „in der Freiheit“: Man wird frei, wenn man Identitäten loslässt.

Zäune und verlassene Bank: Auf dem Weg in die Freiheit muss man viele Hindernisse überwinden, sich aber Zeit zur Kontemplation nehmen. Dieser Weg ist ein schwieriges Unterfangen.

Gelände am Heimatlosenspitz: Hüter der Identitäten versuchen Zwischenräume und Verbundenheit zu eliminieren auch dann, wenn es keinen wirklichen Grund dafür gibt.

Der Reichsberg: Wenn wir die Heimat- beziehungsweise Identitätslosigkeit wagen, dann kommen wir in eine Zeit oder einen Raum voller Verbundenheit. Die Wege sind dann nicht mehr kartiert, aber sie sind vorhanden.

Zweite Gruppe von Jugendlichen: Nachdem wir durch die Heimatlosigkeit/Freiheit gegangen sind, müssen wir zurück in den Alltag. Dort verbinden wir uns, möglichst frei von Identitäten.

In unserer Gesellschaft ist es nicht einfach, heimat- und identitätslos zu sein. Unsere Gesellschaft versucht dies auf Schritt und Tritt zu verhindern. Wagt man die Heimat- und Identitätslosigkeit trotzdem, gelangt man in eine Freiheit und Verbundenheit in der plötzlich ungeahnte Pfade und Möglichkeiten entstehen.

 

 

Der Heimatlosenplatz in alter und neuer Grenzziehung

Donnerstag, 2. Mai 2024

Verbundenheit als wahre Realität?

Die Source Bleu im Val de Cusance in der Franche-Comté ist eine von Felsen und Wald umgebene Quelle, aus der vom Kalk blau gefärbtes Wasser unter einem Teich hervorquillt. Der Ort ist sehr mystisch und strahlt eine tiefe Ruhe aus. Ganz in der Nähe auf einem hohen Felsen steht eine Kapelle zu Ehren von Saint-Erminfroy, einem Heiligen, dessen Namen „Kämpfer des Friedens“ bedeutet.

Wie so oft, begab ich mich auch diesen April zur Quelle. Allein schon der Besuch versetzt mich jeweils in eine besonders spirituelle Stimmung. Anschliessend wanderte ich entlang des Talrandes durch einen wunderschönen Naturwald voller Orchideen zum Croix du Saint-Erminfroy. Dieser schmale Weg verstärkt jedes Mal meine Spiritualität, obwohl es dieses Jahr besonders kalt und regnerisch war. Auf dem Rückweg besuchte ich die Kapelle, und drinnen schien überraschend das Sonnenlicht durch die Fenster. Es waren notabene die einzigen Sonnenstrahlen des ganzen Tages. Ich empfand dies als Aufforderung besonders wachsam zu sein – irgendwo lag eine Erkenntnis verborgen.

Ich beschloss, die Quelle ein zweites Mal zu besuchen, um sie ganz genau zu beobachten. Dieses Mal bemerkte ich die vielen Wirbel auf, die das hinauffliessende Wasser erzeugte. Inmitten jedes Wirbels entstand jeweils ein Hohlraum. Es gab unzählige solcher Vertiefungen in der Wasseroberfläche, welche sich auf dem Teich bewegten und dann mit der Zeit wieder gefüllt wurden. Die Hohlräume traten manchmal allein auf, manchmal in Gruppen, es gab sowohl grössere als auch kleinere. Mitunter verschmolzen zwei oder mehrere solcher Vertiefungen. Die Lebensdauer der Hohlräume war unterschiedlich; manche „lebten“ länger als andere aber früher oder später „starben“ sie alle.

Diese Vertiefungen kamen mir wie Menschen vor. Sie entstanden im hervorquellenden Wasser, lebten einige Zeit, verschmolzen manchmal mit anderen, bewegten sich in Gruppen oder allein und vergingen schliesslich. Und zwar alle. Nur, diese Vertiefungen waren nur Löcher im Wasser – sie waren also gewissermassen kein Wasser. Obwohl sie vom Wasser umgeben waren, stellten sie nichts Eigenes dar. Diese Vertiefungen existierten nur zum Schein – es waren nur Hohlräume.

Ist es bei uns Menschen auch so? Sind wir in Wirklichkeit nur Hohlräume in einer Umgebung von Verbundenheit? Dies würde nicht nur für uns Menschen so gelten, sondern für alle Gegenstände, seien dies nun Tiere, Steine oder ganze Planeten. Die Dinge wären dann genau umgekehrt von der Art und Weise, wie wir sie uns normalerweise vorstellen: Nicht wir sind etwas, sondern das Dazwischen ist die eigentliche Realität. Das, was wir sehen und üblicherweise als Realität empfinden, wäre nichts anderes als der Hohlraum, der in der Mitte eines Wirbels entsteht.

Ist die Source Bleu also ein Sinnbild dafür, wie die Dinge sind? Es entsteht irgendwo im Universum ständig neues Verbundenheitsmaterial – was auch immer das sein mag. Dieses wirbelt an gewissen Stellen, und in der Mitte solcher Wirbel entstehen Hohlräume. Das, was wir als Menschen, Dinge, Planeten und so weiter betrachten, wären nichts anderes als diese Hohlräume. Das Selbst ist in diesem Sinne eine Illusion, da es nichts anderes ist als ein Hohlraum. Eine sehr buddhistische Vorstellung.

Was wäre die Konsequenz? Wenn wir „Krieger des Friedens“ werden wollen, dann müssen wir die Vorstellung eines Selbst mit einer konkreten Identität loslassen und uns stattdessen auf die Verbundenheit konzentrieren. Auch hat es wenig Sinn, den Gang unseres Wirbels beeinflussen zu wollen – vielmehr geht es darum „unseren“ Wirbel zuzulassen. Dies ist im Kern das, was mit dem Weg des Herzens gemeint ist, den ein „Krieger des Friedens“ verfolgt.

Es bleibt aber eine Frage: Wieso das Blau? Normalerweise ist die Quelle hellblau, aber an diesem Tag hatte sie wegen den starken Regenfällen eine eher milchig-blaue Farbe. Hellblau ist die Farbe des fünften Chakras, welches das Thema „Darstellung“ hat. Ich interpretierte: Unser Selbst ist nur eine Darstellung. Wir sollten es von weiss – der Farbe des Herzens beziehungsweise der Verbundenheit – durchdringen lassen. Sogar die Farbe der Quelle unterstützte die Symbolik...

  


Die Source Bleu im Val de Cusance.