Montag, 2. November 2009

Rituale in der Pflege


Von der Zeitschrift 3fach, welche sich an das Personal und die Leitung von Pflegeheimen richtet, wurde ich gebeten, einen Artikel über Schamanismus und Rituale zu schreiben. Rituale sind nun nicht so mein Ding, aber nach einem Telefongespräch mit der Redaktorin, sagte ich dennoch zu. Hier ist, was dabei herausgekommen ist:

Oft werden Schamanen mit allerlei Ritualen in Verbindung gebracht. Wir sehen sie tanzen, Schwitzhütten besuchen, räuchern und dergleichen. Dies ist aber meist nur das, was an der Oberfläche geschieht. Im tiefsten Kern geht es um etwas gänzlich Anderes: Das Wesen des Schamanismus wird nämlich lediglich durch zwei Elemente gekennzeichnet:

1. Schamanen sind Menschen, die konsequent ihre eigenen Wege im Leben suchen und gehen. Dabei erfüllen sie die Absicht des Universums beziehungsweise des Göttlichen.

2. Als Unterstützung hierzu ändern sie mitunter ihre Wahrnehmung, um in einer anderen Wirklichkeit - einer Art Traumwelt - Hilfe zu erhalten.

Schamanen gehen davon aus, dass das Universum, das Göttliche, oder wie eine übergeordnete Kraft auch immer genannt wird, eine Absicht für jeden Menschen hat, oder eben einen eigenen Weg. Unser Herz kennt diesen Weg. Konsequentes Entscheiden mit dem Herzen – also nicht mit dem Kopf oder mit dem Bauch – lässt uns die Absicht des Universums erfüllen. Diese Absicht zu erkennen, beziehungsweise Herzentscheide zu fällen, ist aber eine schwierige Aufgabe, da wir von unseren Eltern, von der Gesellschaft oder von Institutionen geprägt worden sind, die ihre eigenen und nicht unsere Interessen verfolgen. Deshalb besteht die erste Aufgabe meist darin, sich selbst so weit zu heilen, dass die Absicht des Universums überhaupt erkannt werden kann.

Weil der eigene Weg ausserordentliche Herausforderungen mit sich bringt, können Schamanen als zusätzliche Unterstützung vorübergehend ihre Wahrnehmung ändern und die materielle Welt des Alltags verlassen, um in einer spirituellen Wahrnehmung Hinweise über konkrete Anliegen zu erhalten.

Diese beiden Elemente sind die Essenz des Schamanismus. Alles andere, was sichtbar mit Schamanismus in Verbindung gebracht wird, so auch Rituale, sind lediglich zusätzliche Hilfsmittel, welche entweder den eigenen Weg oder die Änderung der Wahrnehmung unterstützen.

Diese Erkenntnis ist äusserst wichtig, denn oft wird die Sache genau umgekehrt angegangen. Weil die Rituale sehr sichtbar und oft beeindruckend sind, besteht die konkrete Gefahr, dass sie von anderen Kulturen übernommen oder auch eigene entwickelt werden ohne auf die tiefere Essenz – eben der eigene Weg oder die Absicht des Universums – zu achten. Manchmal werden auch Rituale angewendet, um konkrete Ziele zu erreichen, von denen aber unklar ist, ob sie dem eigenen Weg entsprechen oder ob sie einem anderen Bedürfnis entspringen. Ich habe schon zu oft beobachtet, wie indianische Rituale eins-zu-eins mit pedantischer Beachtung aller Details übernommen werden, der eigene Weg dabei aber vergessen geht.

Rituale sind nun aber nicht falsch. Im Gegenteil: Mein Anliegen ist aber, dass man sich zuerst über seinen eigenen Weg und den damit verbundenen Themen Klarheit verschafft, bevor man Rituale anwendet. Das Ritual ist nicht die Essenz, es ist ein Hilfsmittel, mehr nicht.

Hat man nun dies erkannt, dann besteht eine grosse Freiheit in der konkreten Gestaltung des Rituals. Meines Erachtens wird das Ritual am besten selber entwickelt. Empfehlenswert ist, wenn man sich dabei Fragen stellt wie: Welche Handlungen könnten meinen Weg unterstützen? Welche Handlungen helfen, mein Herz zu öffnen? Schon alleine die Beschäftigung mit der Gestaltung eines Rituals zur Unterstützung des eigenen Weges hilft diesen finden. Es sind eigene Wege und deshalb eigene Rituale. Ich verzichte deshalb bewusst auf konkrete Vorschläge.

Aber geht das auch für einen Menschen, der pflegebedürftig ist? Für einen alten Menschen, der vielleicht nur noch wenige Jahre, Monate oder gar Tage zu leben hat? Für jemanden, der sich kaum mehr bewegen kann und für alles Hilfe benötigt? Ja – denn es ist nie zu spät und es gibt keine Situation, in der ein eigener Weg nicht gegangen werden könnte. Es gibt keine Lebensumstände, bei der das Universum oder das Göttliche keine Absicht für einen Menschen hätte. Die Kunst ist es also, auch diese Menschen zu motivieren, Gedanken zu solchen Themen zu machen und auch in ihren spezifischen und schwierigen Umständen nach der Absicht des Universums zu suchen.

Aber wie geht nun ein pflegender Mensch oder eine Heimleitung konkret vor? Es ist alles andere als einfach Menschen für ein solches Vorgehen zu motivieren. Mein Vorschlag deshalb: Man wendet diese Vorgehensweise zuerst auf sich selbst an. Wir stellen uns deshalb Fragen wie: Was hat ein konkreter Mensch mir zu sagen? Wieso bin ich mit ihm zusammen? Was hat das mit meinem Weg zu tun? Wie kann ich besser lernen, auf mein eigenes Herzen zu hören? Welche unterstützenden Rituale mache ich bei mir selbst? Der gesamte Aufwand, Rituale in der Pflege einzubringen, beginnt also zuerst bei uns selbst und der Umgebung wird noch nichts gesagt.

Gelingt dies – und so funktioniert das schamanische Weltbild – dann werden wir zusehends mit pflegebedürftigen Menschen in Kontakt kommen, die selbst offen sind für diese Vorgehensweise und die man dann auf ihren Wegen unterstützen kann – ob mit Ritualen oder sonst wie. Und so entsteht auf eine natürliche, ungezwungene Art eine Umgebung, in der alle Menschen, sowohl das Personal wie die Pflegebedürftigen auf eigene Wege, ihr Herz beziehungsweise auf die Absicht des Universums hören.

Vom umgekehrten Vorgehen rate ich ab, d.h. ich überlege mir nicht, welches Ritual wohl für einen anderen Menschen gut sein könnte. Denn woher will ich wirklich wissen, was die Absicht des Universums für einen anderen Menschen ist? Wir können wohl eine Struktur in den Tagesablauf bringen, aber das Ritual wird den tieferen Zweck oft verfehlen.

Also: Schamanen gehen ihren eigenen Weg und hören dabei auf ihr Herzen. Um pflegebedürftigen Menschen diesbezüglich am besten zu helfen, schlage ich vor, dass sich das Personal zuerst  und in erster Linie selbst die Frage nach dem eigenen Weg stellt. Auf diese Art und Weise kommen sie danach mit den richtigen Menschen zusammen, die ebenfalls für diese Thematik offen sind. Erst dann und in zweiter Linie, können Rituale geschaffen werden, welche bei allen Beteiligten die Absicht des Universums unterstützen.

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