Montag, 15. Februar 2021

Mormont

Es war ein sehr kalter Tag im Februar, mit Temperaturen, welche wegen der starken Bise noch kälter wirkten als das Thermometer anzeigte. Wir wanderten von La Sarraz aus entlang von Rebbergen, oberhalb von uns ein Südhang mit einigen Hartlaubeichen, welche mehr an das Mittelmeer erinnerten als an den Canton de Vaud, wären nicht die Eiszapfen an den Felsen gewesen. Einige Blumen erinnerten an die warmen Tage der vorhergehenden Woche. Nach einer handgemalten Tafel, «Attention aux Orchidées», kamen wir zu einer Schutzhütte. Hier müsse man warten, stand auf einer Tafel, sollte eine Sprengsirene losgehen. Dem Personal sei dabei unbedingt Folge zu leisten. Die Hütte bot etwas Schutz vor dem Wind, wir nutzten die Gelegenheit, um etwas warmen Tee zu trinken, um dann, nur einige Meter später, plötzlich am Abgrund einer riesigen Grube zu stehen. Alle paar Meter ein Verbotsschild. Wir gingen entlang der Grube, suchten nach Überresten der rund 250 Schächten, wo vor mehr als 2000 Jahren die keltischen Helvetier Tiere, Menschen und allerlei Gegenstände begruben. Wir sahen nichts. Diese Schächte waren ja auch nach dem sensationellen Fund vor 15 Jahren zerstört worden. Ein Fund, welcher die Einzigartigkeit dieser Stelle hervorgehoben hatte. Unter den Keltenfundorten in Europa gibt es offenbar nur noch zwei oder drei weitere Orte, welche derart wichtig sind, und in der Schweiz war bisher noch keine ähnliche Stelle gefunden worden. Aber eben, von dem sah man nichts mehr. Dafür sahen wir das Lager der ZADisten, Menschen, welche mit einer «Zone à Défendre (ZAD)» ein erstaunlich grosses Dorf aus Zelten und Baumhütten errichtet hatten. Ihr Anliegen ist es, den Rest des Berges vor dem weiteren Abbau durch die Firma Holcim zu retten. Ihnen geht es einerseits um die biologisch sehr wertvollen Gebiete mit vielen Orchideen und natürlich auch darum, dass die Zementproduktion sehr viel Kohlendioxid produziert und deshalb nicht ausgeweitet werden sollte. Trotz der eisigen Kälte herrschte im ZAD-Lager durchaus emsiges Treiben. Nach der schmalen Stelle zwischen Lager und Grube gingen wir weiter zum Sommet du Mormont, genau auf der Wasserscheide zwischen Rhein und Rhone gelegen, ein magischer, wilder Ort. Danach kam der Ancien Canal d’Entreroches, dem Überbleibsel eines Kanals, mit dem man im 17. Jahrhundert die zwei Flüsse Rhein und die Rhone zu verbinden versuchte, so dass Schiffe von der Nordsee bis zum Mittelmeer hätten verkehren können. Kurz danach folgten hässliche Industriebauten, Öllager und die Zementfabrik, bevor wir dann in Ecléplens wieder auf den Zug gingen. Am Bahnhof beobachten wir, wie Arbeiter das Tunnelportal (ja, auch ein Eisenbahntunnel geht unten durch…) vor Steinschlag zu schützen versuchten.

Was hier wie ein Wanderbericht klingt, zeigt auf bedeutende spirituelle Erkenntnisse. Ist man ehrlich mit sich selbst, so kann man hier erkennen, wo man steht und wie es weitergeht. Zuerst zu den Akteuren:

Die Holcim: Für die Zementproduktion baut diese Firma in einer grossen Grube Kalk aus dem Mormont ab. Wegen dem grossen Bedarf an Baumaterial, erweitert sie stetig das Abbaugebiet auf dem Hügel.

Die Helvetier: Die Helvetier hatten vor zwei Tausend Jahren auf dem Mormont ihre wohl wichtigste Kultstätte im Gebiet der Schweiz errichtet. Erkannt hat man dies während dem Kalkabbau an den vielen Schächten, welche mit Skeletten, Kultgegenständen und dergleichen gefüllt waren.

Die Archäologen: In einer Notgrabung haben die Archäologen die Gegenstände und Skelette aus dem Schächten entfernt, beschrieben und konserviert. Die Schächte wurden dann durch den weiteren Abbau zerstört.

Die Naturschützer: Der Mormont hat eine ausgesprochen vielfältige, an das Mittelmeer mutende Vegetation. Pronatura und andere versuchen den Rest des Hügels vor dem weiteren Abbau zu schützen.

Die ZADisten: Die ZADisten haben auf dem Hügel ihre erste Zone dieser Art in der Schweiz errichtet. Mit ihren Körpern wollen sie die Erweiterung der Grube verhindern, dies wegen der vielfältigen Natur und dem CO2 Ausstoss der Zementindustrie.

Der Mormont: Dieser Hügel ist der Schauplatz auf der Wasserscheide, aus Kalk bestehend, vielfältig bewachsen, von dem etwas unklar ist, ob er dies alles einfach hinnimmt oder ob er schreit.

Die Energie des Ortes: Diese beeinflusst zwar unbewusst alles Treiben auf dem Mormont, wird aber von den wenigsten der Beteiligten thematisiert, geschweige denn bewusst wahrgenommen

Der Schamane: Wandert durch das Gelände und beobachtet alles. Er fragt sich: Was geht hier vor?

Wieso kommt hier alles zusammen? Was kann man hier lernen? Hier meine Interpretation:

Alle Beteiligten erkennen auf ihre Art die besondere Qualität des Hügels. Im Kern wollen sie alle dank des Hügels ein erfülltes, befriedigendes Leben führen. Der Zugang und die Motivation sind aber ganz andere:

Die Holcim: Die Holcim erkennt die Qualität des Kalkes. Sie will gewissermassen weiterkommen, indem sie den Berg «aufrisst». Viele Menschen haben auch einen solchen Zugang zum Leben:  Sie sind von materiellen Themen (Häuser, Autos, Geld usw.) behaftet, was sich auch auf spirituelle Themen auswirkt. Wenn sie sich damit befassen, versuchen sie beispielsweise Rituale und Philosophien von anderen zu übernehmen. Wenn sie solche Dinge kopieren, diese also gewissermassen aufessen, dann haben sie den Eindruck, dass sie selbst auch weiterkommen. Hier passt der Ausdruck «Jemand hat die Weisheit mit dem Suppenlöffel gegessen.»

Die Helvetier: Was die Helvetier wollten, weiss niemand. Alles ist nur Spekulation. Aber hier meine: Die Helvetier haben erkannt, dass es sich auf dem Mormont um eine besondere Energie handelt. Nach meinem Eindruck haben sie die vielen Spannungsfelder im Leben erkannt und wollten beim Sterben diese aufheben. Mit den Schächten und den Opfergaben wollten sie diesen Prozess aber stark forcieren. Sie haben dabei übertrieben. Sie wollten etwas herbeizwingen, was sich vermutlich nicht erzwingen lässt. In anderen Worten hatten sie zwar etwas gespürt, waren dann aber zu ungeduldig. Dies ist heute bei vielen Menschen nicht anders, die mit allerlei Zwang (z.B. mit den strikten Regeln eines buddhistischen Klosters) die Erleuchtung schneller erreichen wollen.

Die Archäologen: Die Archäologen haben die Bedeutung des Ortes erkannt und ihn studiert. Aber weiter ist nichts geschehen. Sie sind wie die Menschen, welche über spirituelle Richtungen lesen, sich bestens auskennen, aber nichts in ihrem Leben umsetzen.

Die Naturschützer und ZADisten: Eine bunte Mischung aus verschiedenen Menschen will mit Idealismus den Berg schützen. Sie sehen, der Berg ist krank und bedroht, und sie wollen ihn pflegen. Dies entspricht den Menschen, welche mit spirituellen Methoden anderen helfen wollen, meist ohne diese vorher gefragt zu haben.

Der Mormont: Was der Hügel will, was sein Weg ist, hat niemand nachgefragt. Alle nehmen einfach an, dass sie es am besten wissen. Der Hügel selbst ist wehrlos – sogar das bisschen Steinschlag wird unterbunden. Dies entspricht etwa einem wehrlosen Menschen, etwa einem Kind oder einem Kranken, über den andere bestimmen, die es vermeintlich am besten wissen.  

Die Energie des Ortes: Nach meinem Eindruck – und solches ist immer eine persönliche Wahrnehmung, welche andere Menschen anders sehen können – besteht hier eine starke Verbindung zwischen Himmel und Erde. Ganz viele unterschiedliche Energien oder Stimmungen kommen von allen Seiten zusammen, um sich an einer Stelle gewissermassen aufzulösen damit man vom horizontalen Spannungsfeld in eine vertikale Verbundenheit geraten kann – gewissermassen in eine weitere Dimension. Als mathematischer Vergleich würde man die Spannung aller Zahlen auflösen, durch die Null schlüpfen und so in eine andere Dimension gelangen.

Der Schamane: Der Schamane beobachtet und sucht seinen Weg. Er fragt sich: Wo fresse ich Materielles oder Spirituelles wie die Holcim? Wo pflege ich wie die ZADisten? Wo lese ich mir Wissen an, so wie die Archäologen? Wo übertreibe ich wie die Helvetier? So ehrlich wie möglich, muss er diese Themen in sich selbst suchen und loslassen. Jeder beschriebene Zugang führt nicht zum Ziel. Jeder ist auf seine Art eine Falle. Es geht darum, jede dieser Tendenzen loszulassen. Dies heisst nicht, dass man nicht den Berg schützen kann, kein Kalk verwenden kann, aber jeder Umgang soll auf dem eigenen Weg sein. So findet man den Ort, wo sich die horizontalen, das heisst die Spannungsfelder des Alltages auflösen und man in die Verbundenheit zwischen Himmel und Erde gerät. Vermutlich wird dies aber erst beim natürlichen Tod möglich sein – aber während dem Leben geht es darum, dies ständig zu versuchen.

Nebenbei bemerkt, dieses Konzept der Auflösung von «horizontalen» Spannungsfelder, um dann die Verbundenheit zwischen Himmel und Erde in der «Vertikalen» zu spüren, besteht an vielen vorgeschichtlichen Standorten. Dies zum Beispiel in den grossen Dolmen von Spanien oder Irland, wo man zuerst durch einen engen Gang kriecht, bevor man in einer viel grösseren Kammer aufstehen kann.

Zum Schluss noch dies:

Ab 1. März sind Kurse voraussichtlich wieder möglich. Die beiden Kurse vom März sind:

Die Schamanische Reise ins eigene Leben, 6. März: Obihaus – Kurse

Schamane zwischen Welten, 20. März: oberwilerkurse

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Grube der Holcim auf dem Mormont, im Vordergrund der ehemalige Standort der Schächte der Helvetier, im Hintergrund das vorderste Baumhaus der ZADisten.

1 Kommentar:

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